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Antiziganismus als gesamtgesellschaftliches Problem

© Asio Otus

Antiziganismus, Rassismus gegen Sinti*zze und Rom*nja oder auch Gadjé-Rassismus ist ein in Deutschland noch immer ein weit verbreitetes Phänomen. Sinti*zze und Rom*nja werden diffamiert, kriminalisiert, angefeindet, ausgegrenzt, vertrieben und ermordet. Diese rassistische Diskriminierung ist eine tiefgreifende Alltagserfahrung. die sich in vielen Facetten zeigt: Von gesetzeswidrigen Sondererfassungen bei der Polizei über Abschiebungen von seit Jahrzehnten in Deutschland lebenden Personen bis hin zur beharrlichen Nutzung des Z-Wortes, das eine rassitische Fremdbezeichnung darstellt und stigmatisiert.

Der Kampf gegen Rassismus ist ein Kernanliegen der Menschenrechte. Dazu verpflichten das Grundgesetz sowie europäische und internationale Menschenrechtsverträge wie die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) und das Internationale Übereinkommen gegen rassistische Diskriminierung (ICERD).

Definitionsversuche zu Beschreibung der spezifischen Aspekte von Antiziganismus und zur Abgrenzung zu anderen Rassismen waren lange Zeit unpräzise. Ein breiter Zusammenschluss von Selbstorganisationen, die Allianz gegen Antiziganismus (AGA), bezeichnete das Phänomen 2017 als gesellschaftlich etablierten Rassismus gegenüber Gruppen, die mit dem Stigma des Z-Wortes identifiziert werden. Andere Definitionsvorschläge, etwa durch die International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA), legen zusätzlich einen besonderen Schwerpunkt auf die Anerkennung des Völkermords während der NS-Herrschaft, dem Porajmos, dem mehrere Hunderttausend Menschen zum Opfer fielen.

Kontinuitäten antiziganistischer Diskriminierung

Die Geschichte der rassistischen Diskriminierung von Sinti*zze und Rom*nja in Deutschland reicht noch weiter zurück. Bereits im deutschen Kaiserreich wurde die Minderheit als Sicherheits- und Ordnungsproblem unter Generalverdacht gestellt, weswegen umfangreiche verdachtsunabhängige Personenerfassungen durchgeführt wurden. Diese Datensammlung erleichterten der späteren NS-Herrschaft die Verfolgung der Minderheit. Auf Grundlage der nationalsozialistischen Rassenideologie wurden Sinti*zze und Rom*nja schrittweise entrechtet, ihrer Lebensgrundlagen beraubt und schließlich in Vernichtungslager deportiert oder in Massenerschießungen ermordet.

Die volle Anerkennung des Genozids mussten die Überlebenden im Nachkriegsdeutschland über Jahrzehnte mühsam erkämpfen. Die Verleugnung der rassistischen Verfolgung ging mit der Fortsetzung staatlicher und nichtstaatlicher Diskriminierung von Sinti*zze und Rom*nja einher – wie etwa der Reproduktion rassistischer Stereotype in der Gesellschaft und der stigmatisierenden polizeilichen Erfassung.

Einsetzung der Unabhängigen Kommission Antiziganismus

Nach wie vor ist Rassismus gegen Sinti*zze und Rom*nja fester Bestandteil unserer Gesellschaft. Beispiele gegenwärtiger Diskriminierung nennt der Bericht „Perspektivwechsel. Nachholende Gerechtigkeit. Partizipation“, den die Unabhängige Kommission Antiziganismus im Juni 2021 veröffentlichte. Die Kommission wurde im März 2019 vom Bundestag eingesetzt und bestand aus elf Personen aus Wissenschaft und Zivilgesellschaft. Auch das Institut war personell vertreten: Hendrik Cremer, Wissenschaftlicher Mitarbeiter des Institutswar einer der beiden Sprecher*innen der Kommission.

Der Kommissionsbericht stellt klar fest, dass ein grundlegender Perspektivwechsel in der Gesellschaft nötig ist, um Rassismus gegen Sinti*ze und Rom*nja zu überwinden. „Antiziganistische Diskriminierungen sind im Gegensatz zu anderen Formen von Rassismus noch nicht im öffentlichen Diskurs sichtbar und werden kaum thematisiert“, betont Cremer.

Konkrete Handlungsempfehlungen für Politik und Behörden formuliert

Ein großer Teil des über 600-seitigen Kommissionsberichts widmet sich einer umfassenden Bestandsaufnahme der verschiedenen Erscheinungsformen von Antiziganismus, seiner aktuellen Dimension und seinen historischen Wurzeln. Die Kommission stützte sich in ihrer Arbeit unter anderem auf 15 externe Gutachten mit empirischen Erhebungen und auf mehrere Konsultationsgespräche mit Dachverbänden von Sinti*ze und Rom*nja in Deutschland.

Die Kommission formulierte umfassende Handlungsempfehlungen für Politik und Behörden sowie sechs zentrale Forderungen an Bund und Länder. Im März 2022 setzte die Bundesregierung eine der Forderungen um und berief erstmals einen Beauftragten gegen Antiziganismus, der nun sämtliche Maßnahmen von Bund und Ländern gegen Antiziganismus koordinieren soll. Im Mai trat der Rechtsanwalt Dr. Mehmet Daimagüler, der auch Mitglied im Verein des Instituts ist, sein Amt an.

Antiziganismus innerhalb staatlicher Institutionen

Die Geschichte des Antiziganismus in Deutschland zeigt, dass rassistische Diskriminierung von Sinti*zze und Rom*nja nicht nur auf individueller Ebene stattfindet, sondern auch durch staatliche Strukturen und Institutionen produziert und reproduziert wird. So existierte beispielsweise zwischen 1980 und 2001 eine eigene Sachbearbeitungsstelle zum Tatkomplex sogenannter „reisender Täter“ beim Bundeskriminalamt. Die Kriminalisierung von Sinti*zze und Rom*nja setzt sich noch heute fort und zeigt sich unter anderem in unrechtmäßigen und unverhältnismäßigen polizeilichen Maßnahmen. Zudem werden antiziganistische Motive bei Straftaten kaum erkannt, geschweige denn konsequent verfolgt. Diese polizeiliche und juristische Praxis steht im Widerspruch zu den Menschenrechten. Denn der grund- und menschenrechtliche Auftrag, wonach die Würde jedes einzelnen Menschen zu schützen ist, gibt klar vor, dass rassistisch motivierte Straftaten zu erkennen und zu ahnden sind.

Im Rahmen des Projekts „Rassismus, Antisemitismus, Rechtsextremismus – Stärkung von Strafverfolgung und Opferschutz“ bringt das Institut Vertreter*innen aus Ermittlungsbehörden, Justiz und zivilgesellschaftlichen Organisationen zusammen, um gegen rassistische Strukturen vorzugehen und marginalisierten Gruppen wie Sinti*zze und Rom*nja einen diskriminierungsfreien Zugang zum Recht zu gewährleisten.

(T. Stelzer / P. Carega)

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