Menschen mit Behinderungen haben – genau wie alle anderen Menschen auch – das Recht, selbst zu entscheiden, wo und mit wem sie leben möchten. Sie dürfen nicht auf auf ein Leben in stationären Wohnformen festgelegt werden, sondern unabhängig von Art und Schwere der Beeinträchtigung muss ein Leben in der Gemeinschaft möglich sein. Die Voraussetzung dafür ist genug barrierefreier Wohnraum, wohnortnahe und bedarfsgerechte Unterstützungsangebote und ein inklusives Gemeinwesen. Doch auch mehr als zehn Jahre nach Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) im Jahr 2009 sind diese Voraussetzungen in Deutschland nicht hinreichend erfüllt.
Zwar lebten 2017 gemessen an der Gesamtzahl der Leistungsempfänger_innen 19 Prozent weniger Menschen mit Behinderungen in stationären Wohnformen als im Jahr 2007. Allerdings variiert die Ambulantisierungsquote – das Verhältnis vom ambulanten zum stationären Wohnen – zwischen den einzelnen Bundesländern stark: In manchen Ländern werden weniger als ein Drittel der Leistungsempfänger_innen ambulant betreut, in anderen wiederum mehr als zwei Drittel. Noch gewichtiger ist, dass vom Ausbau ambulanter Angebote nicht gleichermaßen alle Menschen mit Behinderungen profitieren. Nutznießende sind vor allem Menschen mit psychosozialer Beeinträchtigung (sogenannte „seelische Behinderung“), die 72 Prozent der 2017 ambulant betreuten Personen ausmachen. Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung (sogenannte „geistige Behinderung“) und Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf (sogenannte „schwer-mehrfach behinderte Menschen“) werden größtenteils in stationären Einrichtungen betreut, dort machen sie fast zwei Drittel aller Leistungsbeziehenden aus. Dieses Verhältnis besteht seit 2007 unverändert. Das heißt, dass insbesondere Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung nicht die gleichen Chancen haben, bedarfsgerechte Unterstützung auch außerhalb von stationären Einrichtungen zu erhalten. Sie sind derzeit besonders von fehlenden Wahlmöglichkeiten in Bezug auf die Wohnform betroffen.
Um die Anforderungen aus Artikel 19 der UN-BRK umzusetzen, muss der Prozess der Deinstitutionalisierung für alle Menschen mit Behinderungen weiter vorangetrieben werden. Das am 23. Dezember 2016 verabschiedete Bundesteilhabegesetz (BTHG) ist in diesem Zusammenhang ein wichtiger Schritt. In der Umsetzung des Geseztes sind Länder, Kommunen und Träger der Freien Wohlfahrtspflege gefragt, einen wichtigen Strukturwandel vorzunehmen, im Rahmen dessen Eingliederungshilfeleistungen nicht mehr an die Wohnform, sondern an die individuellen Bedarfe der jeweiligen Person geknüpft sind. Dadurch soll mehr Wahlfreiheit in Bezug auf die Lebensgestaltung und Wohnform ermöglicht werden. In der Umsetzung des BTHG liegt eine große Chance. Sein Einfluss auf die Umsetzung des Rechts auf eine unabhängige Lebensführung wird in den nächsten Jahren zu beobachten sein.