Die erste und zentrale Säule im Rahmen der Implementierung eines Nationalen Verweisungsmechanismus bildet die Identifizierung Betroffener von Menschenhandel, um ihnen unmittelbar effektiven Schutz zu bieten. Ein NRM sollte für Betroffene von Menschenhandel aller Ausbeutungsformen der Paragrafen §§ 232 bis 233a StGB gelten (sexuelle Ausbeutung, Arbeitsausbeutung, Betteltätigkeit, Begehung von Straftaten und Organentnahme). Dabei sollten alle Betroffenengruppen jeden Geschlechts und Alters umfasst werden.
Um eine effektive Identifizierung zu gewährleisten, definiert die OSZE sogenannte „zuständige NRM-Behörden“ (NRM competent authorities), die für den Umgang mit Betroffenen von Menschenhandel geschultes Personal einsetzen. Zu diesen Behörden gehören insbesondere Jugendämter, Polizei-, Grenz-, Zoll-, Justiz-, Leistungs- sowie Ausländer- und Asylbehörden. Zu den weiteren NRM-Akteuren gehören unter anderem spezialisierte Fachberatungsstellen, Gewerkschaften und Arbeitsinspektionen.
Die OSZE betont, dass Identifizierungsprozesse zweistufig sind: Eine vorläufige Identifizierung potenziell Betroffener soll zur Erteilung einer mindestens dreimonatigen Bedenk- und Stabilisierungsfrist führen. Während dieser Zeit sollen sich potenziell Betroffene ausreichend erholen können und eine Entscheidung darüber treffen, ob sie mit den Behörden zusammenarbeiten. Eine aufenthaltsbeendende Maßnahme darf während dieser Zeit nicht vollstreckt werden. Die Bedenk- und Stabilisierungsfrist wird in Deutschland für irregulär aufhältige Personen durch § 59 Abs. 7 AufenthG gewährleistet. Sie haben in dieser Zeit Anspruch auf Leistungen zum Lebensunterhalt nach dem Asylbewerberleistungsgesetz. Doch auch EU-Bürger*innen steht diese Frist mit entsprechenden Leistungen zum Lebensunterhalt in der Regel nach dem SGB II zu (Fachliche Weisung der Bundesagentur für Arbeit zu § 7 SGB II, Rn. 7.37). Die abschließende Identifizierung von Betroffenen berechtigt zur Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 25 Abs. 4a AufenthG. Bereits ab dem ersten Identifizierungsschritt sollen für Betroffene grundlegende Schutz- und Unterstützungsleistungen der zweiten Säule gewährleistet sein.
Die vorliegenden Ergebnisse lassen keine abschließende Bewertung der Umsetzung dieser Säule zu. Eine qualitative Dokumentenanalyse bildet weder Strukturen oder standardisierte Verfahrensabläufe ab, die unabhängig von schriftlichen Dokumenten existieren, noch wurde die praktische Anwendung der Dokumente geprüft.