Im Fokus

„Menschenrechte müssen stets aufs Neue erkämpft werden“

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Vor 75 Jahren, am 10. Dezember 1948, verkündeten die Vereinten Nationen die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Damals hofften Menschen auf der ganzen Welt auf die Verwirklichung von Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit. Beate Rudolf und Michael Windfuhr über Erfolge, Rückschläge und aktuelle Herausforderungen für die Verwirklichung der Menschenrechte.

Wenn die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte ein Mensch wäre, was sollte auf der Geburtstagstorte stehen?

Beate Rudolf: Du hast die Welt verändert. Weiter so!

Michael Windfuhr: Gleiche Rechte für alle.

Sie sollen Botschafter*in für einen Artikel der Allgemeinen Erklärung werden– welcher Artikel wäre das?

Rudolf: Ich würde Artikel 1 wählen: Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Da steckt alles drin. Ohne Artikel 1 gibt es keine Menschenrechte.

Windfuhr: Bei mir wäre es Artikel 25, das Recht auf einen angemessenen Lebensstandard. Denn ein Leben ohne Not und ohne soziale Ausgrenzung ist zentral für die Realisierung der Menschenwürde.

Was sind aus Ihrer Sicht wichtige Meilensteine seit Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung?

Windfuhr: Seit der Wiener Weltkonferenz für Menschenrechte 1993 ist klar: Die Menschenrechte sind unteilbar. Die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte sind die Voraussetzung dafür, dass Menschen ihre bürgerlichen und politischen Rechte ausüben können. Sie sichern beispielsweise ein menschenwürdiges Leben und das Recht auf Bildung und damit die Fähigkeit, die eigenen Rechte zu kennen und einzufordern.

Rudolf: Die Allgemeine Erklärung hat das Grundgesetz und die Europäische Menschenrechtskonvention geprägt. Meilensteine sind auch die Menschenrechtsverträge der Vereinten Nationen, insbesondere die beiden Weltpakte ebenso wie die Verträge gegen rassistische Diskriminierung (1965), gegen die Diskriminierung von Frauen (1979), die Kinderrechtskonvention (1989) und die Behindertenrechtskonvention (2006 ). Sie haben die Menschenrechte rechtsverbindlich und einklagbar gemacht. Sie haben die universellen Menschenrechte für die Angehörigen diskriminierter Gruppen ausbuchstabiert und internationale Kontrollverfahren eingeführt.

„Überall auf der Welt berufen sich Menschen auf ihre Menschenrechte, um sich gegen Unrecht zu wehren.“

Beate Rudolf, Direktorin des Instituts 

Und welche Rückschritte oder Lücken gab und gibt es?

Windfuhr: Die Verwirklichung der Menschenrechte ist kein geradliniger Weg. Sie müssen auch immer wieder erkämpft und verteidigt werden. Rückschritte gibt es beispielsweise, wenn demokratische Staaten Menschenrechtsverletzungen tolerieren oder sich selbst nicht an menschenrechtliche Vorgaben halten, dafür aber nicht zur Verantwortung gezogen werden.

Rudolf: Rassistische Diskriminierung, insbesondere von geflüchteten Menschen, ist vielerorts, auch in Deutschland, ein großes Problem. Auch die Rechte von Menschen mit Behinderungen sind nicht hinreichend verwirklicht. Wir erleben außerdem, dass die Menschenrechte von Frauen, Lesben, Schwulen, trans- und intergeschlechtlichen sowie nichtbinären Menschen infrage gestellt werden. Und was definitiv fehlt, ist eine Konvention über die Rechte älterer Menschen.

Kritiker*innen stellen die Universalität der Menschenrechte infrage und behaupten, sie seien westlich orientiert. Was entgegnen Sie?

Rudolf: Menschen aus dem Globalen Süden kritisieren zu Recht, dass der Globale Norden oft mit zweierlei Maß misst und die Menschenrechte instrumentalisiert, um militärische Interventionen zu legitimieren. Als die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von den damals 58 UN-Mitgliedstaaten verabschiedet wurde, fehlten große Teile der noch kolonial beherrschten Welt. Aber: Bereits 1955 bekannten sich auf der Konferenz von Bandung die Vertreter von 29 unabhängig gewordenen Staaten zu den Menschenrechten und 1993 erneuerte die Staatengemeinschaft auf der Wiener Konferenz gemeinsam dieses Bekenntnis. Und überall auf der Welt berufen sich Menschen auf ihre Menschenrechte, um sich gegen Unrecht zu wehren.

Windfuhr: Viele moderne Verfassungen beziehen sich auf die Menschenrechte. Die Staaten haben das aus freien Stücken getan und wurden oft von ihrer Gesellschaft dazu motiviert. Das Narrativ der Menschenrechte als westliches Konzept blendet zudem die unterschiedlichen philosophischen und religiösen Perspektiven der Mütter und Väter der Allgemeinen Erklärung aus. Der Verzicht auf religiöse, traditionelle oder ideologische Anknüpfungen war und ist zentral für ihre Erfolgsgeschichte. Die Menschenwürde ist eine Länder und Kulturen übergreifende Grundlage für die Menschenrechte.

„Menschenrechte sind unteilbar: Wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte sind die Voraussetzung dafür, dass Menschen ihre bürgerlichen und politischen Rechte ausüben können.“

Michael Windfuhr, Stellvertretender Direktor des Instituts 

Seit 1948 hat die Welt sich massiv verändert: Ist das System des internationalen Menschenrechtsschutzes angesichts der Vielzahl an aktuellen Herausforderungen noch zeitgemäß?

Windfuhr: Kriege, Pandemien, die Digitalisierung oder der Klimawandel – die Liste der Herausforderungen ist in der Tat lang. Der Klimawandel beispielsweise wird massive Auswirkungen auf die Menschenrechte haben, etwa auf das Menschenrecht auf Gesundheit, auf Nahrung oder auf Wasser. Es braucht eine Politik, die versucht, Diskriminierungen zu überwinden und politische wie wirtschaftliche Macht rechtsstaatlich zu kontrollieren. Der internationale Menschenrechtsschutz ist unersetzlich, um eine verantwortliche Politik zu formulieren und um Staaten zur Verantwortung ziehen zu können.

Rudolf: Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine zeigt, was es bedeutet, wenn ein Staat die internationale Ordnung ignoriert und ihre Fundamente angreift. Die Staaten, die sich für Menschenrechte einsetzen, müssen immer wieder auf den Menschenrechten als Konsens der Weltgemeinschaft bestehen. Sie müssen Rechtsbruch klar als Rechtsbruch benennen.

Politiker*innen weltweit – auch in Europa, auch in Deutschland – stellen internationale Menschenrechtsabkommen in Frage: Wie können die Menschenrechte wieder an Strahlkraft gewinnen?

Windfuhr: Es gibt immer Politiker*innen, die sich nicht kontrollieren lassen wollen und Rechenschaftspflichten ablehnen. Politik darf aber nicht der Absicherung von Privilegien, exklusiven Zugängen zu Macht oder ökonomischer Ressourcen dienen. Widerstände gibt es vor allem dann, wenn Macht abgegeben werden soll. Herrschaft darf nicht auf Dauer sein und muss kontrolliert werden können.

Rudolf: Die zentrale Frage für alle Gesellschaften ist doch: Wie wollen wir leben, heute und in der Zukunft? Die Allgemeine Erklärung sagt: mit Menschenrechten! Denn sie sind die Grundlage von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden in der Welt. Nur wenn Staaten die Menschenrechte als Maßstab ihres Handelns ernst nehmen, erreichen wir für alle Menschen ein Leben frei von Furcht und Not. Deshalb brauchen wir auch gute Menschenrechtsbildung für alle – für die, die den Staat vertreten, ebenso wie für die Bevölkerung. Denn die Menschenrechte müssen immer wieder erstritten werden.

Interview: abe

Menschenrechte im Fokus – Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte

Wieso die Gedanken und Visionen der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte heute noch hochaktuell sind, führt Institutsdirektorin Beate Rudolf auch in diesem Video aus, das Teil der Reihe „Menschenrechte im Fokus“ ist.

 

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