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Selbstbestimmte Sexualität von Frauen mit Behinderungen

© iStock/AaronAmat

Jeder Mensch soll frei und selbstbestimmt über seinen Körper und seine Sexualität bestimmen können. Dazu gehören auch Fragen zur Verhütung und Familienplanung. Mädchen und Frauen mit Behinderungen erfahren hier jedoch häufig Diskriminierungen und haben mit Vorurteilen in der Gesellschaft zu kämpfen. Wie diese überwunden werden können, erläutert Sabine Bernot, wissenschaftliche Mitarbeiterin der Monitoring-Stelle UN-Behindertenrechtskonvention, im Interview.

Was sind sexuelle und reproduktive Rechte?

Sabine Bernot: Sexuelle und reproduktive Rechte sind Menschenrechte. Es geht darum, dass jede Person frei und selbstbestimmt über ihren Körper, ihre Sexualität und ihre Fortpflanzung entscheiden kann. Dazu gehört zum Beispiel, dass sie wählen kann, ob sie eine sexuelle Beziehung eingehen möchte und ob sie Kinder haben will oder nicht. Zu den sexuellen Rechten gehört auch die Pflicht des Staates, Menschen vor sexualisierter Gewalt zu schützen.

Welchen besonderen Herausforderungen begegnen Frauen und Mädchen mit Behinderungen?

Bernot: Frauen und Mädchen mit Behinderungen erfahren aufgrund ihres Geschlechts und ihrer Beeinträchtigung mehrfache Diskriminierung. Nach der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) haben sie das Recht auf einen gleichen Zugang zu Gesundheitsversorgung, auf barrierefreie Aufklärung über ihre eigene Sexualität und die Möglichkeit, Kinder zu bekommen und eine Familie zu gründen. Im Alltag beginnen die Probleme jedoch häufig bereits beim Zugang zur gynäkologischen Gesundheitsversorgung und den Informationen. Zum Beispiel gibt es bauliche Barrieren, wenn Arztpraxen für Rollstuhlfahrer*innen nicht zugänglich sind oder die Praxis nicht über barrierefreie Untersuchungsmöbel verfügt. Barrierefreiheit umfasst auch, dass Informationen, zum Beispiel über Verhütung oder medizinische Eingriffe, in verständlicher Weise bereit gestellt werden und Aufklärungsgespräche gegebenenfalls mithilfe unterstützter Kommunikation oder mit Dolmetscher*innen geführt werden.

Wie sieht es bei Verhütung und Familienplanung aus?

Bernot: Nach Artikel 23 UN-BRK haben Menschen mit Behinderungen das gleiche Recht, über ihre Familiengründung und -planung sowie Elternschaft zu entscheiden wie andere auch. Entscheidungen über Verhütung setzen -wie jedes medizinische Handeln- stets eine freie und informierte Zustimmung der betroffenen Person voraus. Das erfordert einen barrierefreien Zugang zu Aufklärung und Beratung. Besonders wichtig ist dabei, dass kein Druck ausgeübt wird, beispielsweise bei der Frage, ob und wenn ja, welche Verhütung gewählt wird. Gerade Frauen in Einrichtungen erhalten häufig die sogenannte 3-Monats-Spritze, die starke Nebenwirkungen haben kann und deshalb von Frauen ohne Beeinträchtigung so gut wie gar nicht mehr genutzt wird. Im Bereich der Abtreibung und der Sterilisation gibt es große Dunkelfelder dahingehend, ob diese wirklich selbstgewählt stattfinden. Hier besteht dringender Forschungsbedarf.

Im Bereich der Elternschaft begegnen Menschen mit Behinderungen noch vielen Vorurteilen und es wird ihnen mitunter nicht zugetraut, dass sie gute Eltern sein können. Menschen mit Behinderungen haben das Recht, Eltern zu werden - gegebenenfalls mit gezielter Unterstützung. Mittlerweile ist ein entsprechender Anspruch auf Unterstützung auch im deutschen Sozialgesetzbuch verbrieft. Wichtig ist hier, dass vor Ort auch die entsprechenden Angebote vorgehalten werden. Momentan fehlt es vielerorts noch an Eltern-Kind-Wohnangeboten, Möglichkeiten zu Eltern-Assistenz beziehungsweise zu Unterstützter Elternschaft.

Was muss getan werden, um hier die Rechte von Frauen und Mädchen mit Behinderungen zu stärken?

Bernot: Zum einen geht es darum, eine flächendeckende und ortsnahe sowie inklusive Gesundheitsversorgung zu schaffen, auch in ländlichen Gebieten. Zum anderen ist es wichtig, dass medizinisches und pflegerisches Personal die Rechte von Frauen und Mädchen mit Behinderungen kennen und für ihre Bedarfe geschult sind. Am besten sollte das direkt in die Ausbildungs- und Studienpläne mit aufgenommen werden. Auch muss sichergestellt werden, dass keine Sterilisation und keine Abtreibung ohne freie und informierte Zustimmung erfolgt. Gerade in diesen Bereichen besteht ein dringender Bedarf nach Forschung. Weiter braucht es barrierefreie Beratung sowohl zu medizinischen Dienstleistungen als auch zu Unterstützungsangeboten, zum Beispiel mithilfe von Übersetzung in Leichte Sprache oder Gebärdensprache.

Was erwarten und fordern Sie von der neuen Regierung?

Bernot: Wir erhoffen uns, dass sie sich zügig den genannten Problembereichen annimmt. Der Koalitionsvertrag bietet dahingehend einige Anknüpfungspunkte. Zum Beispiel ist ein Bundesprogramm Barrierefreiheit angekündigt, das auch die Barrierefreiheit der Gesundheitsversorgung umfassen soll. Hier erwarten wir, dass auch die Barrieren in der gynäkologischen Gesundheitsversorgung abgebaut werden. Die Bundesregierung hat zudem vor, geschlechtsbezogene Unterschiede in der Gesundheitsversorgung und -förderung in den Blick zu nehmen und geschlechtsspezifische Diskriminierungen im Gesundheitswesen abzubauen. Auch hier sollte wiederum die Lage von Frauen und Mädchen mit Behinderungen berücksichtigt werden. Des Weiteren plant sie noch in diesem Jahr einen Aktionsplan für ein diverses, inklusives und barrierefreies Gesundheitswesen zu entwickeln. Wir fordern, dass die sexuellen und reproduktiven Rechte von Frauen und Mädchen mit Behinderungen in diesem Aktionsplan als ein Schwerpunkt behandelt werden und dass die oben genannten Maßnahmen einfliessen. Der Aktionsplan sollte darüber hinaus unbedingt partizipativ mit Beteiligung von Menschen mit Behinderungen erarbeitet werden.

Wie sieht es auf UN-Ebene aus? Gibt es Empfehlungen für die sexuellen und reproduktiven Rechte von Frauen und Mädchen mit Behinderungen?

Bernot: 2017 hat Catalina Devandas Aguilar, die damalige UN-Sonderberichterstatterin, eine groß angelegte internationale Studie veröffentlicht, in der sie auf die Herausforderungen im Bereich der sexuellen und reproduktiven Gesundheit und Rechte eingeht, denen sich Mädchen und junge Frauen mit Behinderungen gegenübersehen. Dieser Bericht bietet eine Orientierungshilfe, wie Staaten dafür sorgen können, dass ihr rechtlicher und politischer Rahmen die Selbstbestimmung fördert und strukturelle Barrieren abgebaut werden. Der Bericht wurde kürzlich ins Deutsche übersetzt und die Monitoring-Stelle UN-BRK hat dazu eine Information veröffentlicht. Darin gehen wir auf die Lage weltweit und die menschenrechtlichen Vorgaben ein und richten auch den Blick auf die Situation in Deutschland.

(P. Carega, März 2022)

Konventionstext

Artikel 6 UN-BRK Frauen mit Behinderungen

(1) Die Vertragsstaaten anerkennen, dass Frauen und Mädchen mit Behinderungen ehrfacher Diskriminierung ausgesetzt sind, und ergreifen in dieser Hinsicht Maßnahmen, um zu gewährleisten, dass sie alle Menschenrechte und Grundfreiheiten voll und gleichberechtigt genießen können.

(2) Die Vertragsstaaten treffen alle geeigneten Maßnahmen zur Sicherung der vollen Entfaltung, der Förderung und der Stärkung der Autonomie der Frauen, um zu garantieren, dass sie die in diesem Übereinkommen genannten Menschenrechte und Grundfreiheiten ausüben und genießen können.

Artikel 23 UN-BRK Achtung der Wohnung und der Familie

(1) Die Vertragsstaaten treffen wirksame und geeignete Maßnahmen zur Beseitigung der Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen auf der Grundlage der Gleichberechtigung mit anderen in allen Fragen, die Ehe, Familie, Elternschaft und Partnerschaften betreffen, um zu gewährleisten, dass

a) das Recht aller Menschen mit Behinderungen im heiratsfähigen Alter, auf der Grundlage des freien und vollen Einverständnisses der künftigen Ehegatten eine Ehe zu schließen und eine Familie zu gründen, anerkannt wird;

b) das Recht von Menschen mit Behinderungen auf freie und verantwortungsbewusste Entscheidung über die Anzahl ihrer Kinder und die Geburtenabstände sowie auf Zugang zu altersgemäßer Information sowie Aufklärung über Fortpflanzung und Familienplanung anerkannt wird und ihnen die notwendigen Mittel zur Ausübung dieser Rechte zur Verfügung gestellt werden;

c) Menschen mit Behinderungen, einschließlich Kindern, gleichberechtigt mit anderen ihre Fruchtbarkeit behalten.

(2) Die Vertragsstaaten gewährleisten die Rechte und Pflichten von Menschen mit Behinderungen in Fragen der Vormundschaft, Pflegschaft, Personen- und Vermögenssorge, Adoption von Kindern oder ähnlichen Rechtsinstituten, soweit das innerstaatliche Recht solche kennt; in allen Fällen ist das Wohl des Kindes ausschlaggebend. Die Vertragsstaaten unterstützen Menschen mit Behinderungen in angemessener Weise bei der Wahrnehmung ihrer elterlichen Verantwortung.

(3) Die Vertragsstaaten gewährleisten, dass Kinder mit Behinderungen gleiche Rechte in Bezug auf das Familienleben haben. Zur Verwirklichung dieser Rechte und mit dem Ziel, das Verbergen, das Aussetzen, die Vernachlässigung und die Absonderung von Kindern mit Behinderungen zu verhindern, verpflichten sich die Vertragsstaaten, Kindern mit Behinderungen und ihren Familien frühzeitig umfassende Informationen, Dienste und Unterstützung zur Verfügung zu stellen.

(4) Die Vertragsstaaten gewährleisten, dass ein Kind nicht gegen den Willen seiner Eltern von diesen getrennt wird, es sei denn, dass die zuständigen Behörden in einer gerichtlich nachprüfbaren Entscheidung nach den anzuwendenden Rechtsvorschriften und Verfahren bestimmen, dass diese Trennung zum Wohl des Kindes notwendig ist. In keinem Fall darf das Kind aufgrund einer Behinderung entweder des Kindes oder eines oder beider Elternteile von den Eltern getrennt werden.

(5) Die Vertragsstaaten verpflichten sich, in Fällen, in denen die nächsten Familienangehörigen nicht in der Lage sind, für ein Kind mit Behinderungen zu sorgen, alle Anstrengungen zu unternehmen, um andere Formen der Betreuung innerhalb der weiteren Familie und, falls dies nicht möglich ist, innerhalb der Gemeinschaft in einem familienähnlichen Umfeld zu gewährleisten.

Artikel 25 UN-BRK Gesundheit

Die Vertragsstaaten anerkennen das Recht von Menschen mit Behinderungen auf das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit ohne Diskriminierung aufgrund von Behinderung. Die Vertragsstaaten treffen alle geeigneten Maßnahmen, um zu gewährleisten, dass Menschen mit Behinderungen Zugang zu geschlechtsspezifischen Gesundheitsdiensten, einschließlich gesundheitlicher Rehabilitation, haben. Insbesondere

a) stellen die Vertragsparteien Menschen mit Behinderungen eine unentgeltliche oder erschwingliche Gesundheitsversorgung in derselben Bandbreite, von derselben Qualität und auf demselben Standard zur Verfügung wie anderen Menschen, einschließlich sexual- und fortpflanzungsmedizinischer Gesundheitsleistungen und der Gesamtbevölkerung zur Verfügung stehender Programme des öffentlichen Gesundheitswesens;

b) bieten die Vertragsstaaten die Gesundheitsleistungen an, die von Menschen mit Behinderungen speziell wegen ihrer Behinderungen benötigt werden, soweit angebracht, einschließlich Früherkennung und Frühintervention, sowie Leistungen, durch die, auch bei Kindern und älteren Menschen, weitere Behinderungen möglichst gering gehalten oder vermieden werden sollen;

c) bieten die Vertragsstaaten diese Gesundheitsleistungen so gemeindenahwie möglich an, auch in ländlichen Gebieten;

d) erlegen die Vertragsstaaten den Angehörigen der Gesundheitsberufe die Verpflichtung auf, Menschen mit Behinderungen eine Versorgung von gleicher Qualität wie anderen Menschen angedeihen zu lassen, namentlich auf der Grundlage der freien Einwilligung nach vorheriger Aufklärung, indem sie unter anderem durch Schulungen und den Erlass ethischer Normen für die staatliche und private Gesundheitsversorgung das Bewusstsein für die Menschenrechte, die Würde, die Autonomie und die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen schärfen;

e) verbieten die Vertragsstaaten die Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen in der Krankenversicherung und in der Lebensversicherung, soweit eine solche Versicherung nach innerstaatlichem Recht zulässig ist; solche Versicherungen sind zu fairen und angemessenen Bedingungen anzubieten;

f) verhindern die Vertragsstaaten die diskriminierende Vorenthaltung von Gesundheitsversorgung oder ‑leistungen oder von Nahrungsmitteln und Flüssigkeiten aufgrund von Behinderung.

Publikationen zu diesem Thema

Ansprechpartner*in

© DIMR/B. Dietl

Dr. Sabine Bernot

Wissenschaftliche Mitarbeiterin
(abwesend bis Sommer 2024)

Telefon: 030 259 359 - 448

E-Mail: bernot(at)institut-fuer-menschenrechte.de

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