Im Fokus

Menschenrechte und Rechtsstaat stärken

Institutsdirektorin Beate Rudolf © DIMR/A. Illing

Internationale Menschenrechtsverträge garantierten die Grundlagen von Demokratie und Rechtsstaat und das friedliche Zusammenleben der Menschen. Und doch geraten die Institutionen des Menschenrechtsschutzes in Europa und weltweit zunehmend unter Druck. Institutsdirektorin Beate Rudolf über die Errungenschaften der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), die vor 70 Jahren unterzeichnet wurde, und die Frage, wie Rechtsstaatlichkeit und die Beachtung der Menschenrechte angesichts aktueller Herausforderungen gesichert und ausgebaut werden können.

Was sind die größten Erfolge der Europäischen Menschenrechtskonvention?

Beate Rudolf: In den 70 Jahren ihres Bestehens hat sich die Europäische Menschenrechtskonvention als Fundament für das friedliche Zusammenleben der Menschen in Europa erwiesen. Sie symbolisiert und garantiert die Grundlagen, auf denen das europäische Projekt fußt: Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte. Wenn man sich die Situation in Europa im Jahr 1950 vor Augen hält – der Zweite Weltkrieg und die Erfahrung der völligen Entrechtung von Menschen durch die Menschheitsverbrechen des nationalsozialistischen Deutschlands lagen noch nicht lange zurück – kann man ermessen, welch ein großer zivilisatorischer Fortschritt die Unterzeichnung der EMRK war. Dass die Konvention einen solch großen Einfluss haben konnte, ist maßgeblich der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu verdanken. Wer sich in der Ausübung seiner Menschenrechte eingeschränkt fühlt, kann Beschwerde beim Gerichtshof einreichen, als letztes Mittel, wenn der innerstaatliche Menschenrechtsschutz versagt.

Welchen Einfluss hat die EMRK in den Mitgliedstaaten des Europarates, also auch in Deutschland?

Rudolf: Die EMRK macht deutlich: Alle Staatsgewalt ist durch die Menschenrechte gebunden. Staatliche Souveränität ist also immer menschenrechtlich gebundenen Souveränität. Es ist zentrale Aufgabe des Staates, die Menschenrechte jedes einzelnen Menschen im eigenen Land zu achten und zu schützen. Damit erteilt die EMRK allen eine Absage, die den Staat, die Nation oder eine Ideologie über den Menschen stellen wollen. Es geht der EMRK darum, Freiheit und Selbstbestimmung für alle Menschen in Europa zu sichern. Die Rechtsprechung des Gerichtshofs für Menschenrechte macht klar: Die Menschenrechte sind untrennbarer Bestandteil von Demokratie und Rechtsstaat. Sie sind deren Voraussetzung, und sie sind für ihre Verwirklichung auf Demokratie und Rechtsstaat angewiesen.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat durch seine Rechtsprechung den Schutz der Menschenrechte in den Mitgliedstaaten des Europarats maßgeblich gestärkt. Er legt die EMRK autoritativ aus, die Mitgliedstaaten müssen seine Urteile befolgen. Insbesondere müssen sie über den Einzelfall hinaus diejenigen Gesetze ändern, die der Grund für eine festgestellte Menschenrechtsverletzung sind. Die Europäische Menschenrechtskonvention bildet damit den gemeinsam vereinbarten menschenrechtlichen Mindeststandard in Europa.

Welche Bedeutung hat die EMRK in Deutschland?

Rudolf: Der Grundrechtsschutz in Deutschland ist international eingebettet. Das macht schon Artikel 1 des Grundgesetzes deutlich. Er enthält ein Bekenntnis zu den internationalen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft. Dementsprechend verlangt das Bundesverfassungsgericht, dass die grundgesetzlich geschützten Grundrechte im Lichte der internationalen Menschenrechte ausgelegt werden. So hat die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte dem Grundrechtsschutz in Deutschland wichtige Impulse gegeben, beispielsweise für den Strafprozess, das elterliche Umgangsrecht oder den Konflikt zwischen Pressefreiheit und Persönlichkeitsschutz. Besonders wichtig waren Urteile des Gerichtshofs auch in politisch und gesellschaftlich hoch umstrittenen Fällen, etwa im Fall eines Kindermörders, dem Folter angedroht wurde, damit er das Versteck des von ihm entführten und vermeintlich noch lebenden Kindes verrät, oder bei der Sicherungsverwahrung, also wenn Täter*innen nach Verbüßen ihrer Gefängnisstrafe wegen ihrer Gefährlichkeit nicht freigelassen werden.

Was sind derzeit die größten Herausforderungen für den Schutz der Menschenrechte in Europa?

Rudolf: In Europa wie auch weltweit sind politische Strömungen erstarkt, die menschenfeindliche Vorurteile befeuern sowie rechtsstaatliche Institutionen und Verfahren infrage stellen und aushebeln wollen. Zunehmend werden die Menschenrechte und der Wert einer multilateralen, normgebundenen Politik in Zweifel gezogen. Dadurch geraten auch nationale und internationale Institutionen des Menschenrechtsschutzes zunehmend unter Druck. Zudem wird vielerorts der Handlungsspielraum für die Zivilgesellschaft eingeschränkt, etwa durch Gesetze, die die Arbeit von Nichtregierungsorganisationen erschweren. Immer wieder kommt es zu Einschüchterungen über soziale Medien, zu Angriffen auf Menschen und zu politischer Gewalt. In einigen Ländern geschieht dies durch gesellschaftliche Gruppen, in anderen mehr oder weniger offen durch die Regierungen. Zu Recht hat der EGMR wiederholt betont, dass Politiker*innen eine besondere Verantwortung dafür tragen, Hass nicht zu schüren und dem Hass entgegenzutreten. Es braucht Gesetzes- und Prinzipientreue gegen die populistische Versuchung, Menschen zu Sündenböcken zu machen und Feinbilder zu erfinden. Es braucht eine freie Zivilgesellschaft und unabhängige Medien, um Regierungen und Parlamente zur Rechenschaft zu ziehen. Und es braucht unabhängige Gerichte, die einschreiten können, wenn Menschenrechte missachtet werden.

Und in Deutschland?

Rudolf: Auch wenn der Menschenrechtsschutz in Deutschland gut aufgestellt ist, zeigt uns der Blick über die Landesgrenzen, etwa nach Polen, Ungarn oder in die Türkei, wie wichtig es ist, frühzeitig den Attacken auf Demokratie, Rechtsstaat und Menschenrechte entgegenzutreten. Die Angriffe zielen auf eine unabhängige Gerichtsbarkeit, auf freie und pluralistische Medien, eine kritische Zivilgesellschaft und eine freie Wissenschaft, die nach methodengeleiteter Erkenntnis strebt. Sie alle werden durch die EMRK geschützt. Und sie alle brauchen den Europäischen Menschenrechtsgerichtshof zur Verteidigung ihrer Menschenrechte, wenn staatlicher Schutz versagt oder versagt wird.

Und schließlich: Auch hierzulande erleben wir, wie durch rassistische, antisemitische und antiziganistische Hassrede und Gewalt die gleiche Menschenwürde aller Menschen infrage gestellt und damit das Fundament der Menschenrechte angegriffen wird. An den Außengrenzen der Europäischen Union sehen wir, wie fundamentale Menschenrechte von Schutzsuchenden durch Pushbacks mit Füßen getreten werden und damit auch grundlegende Urteile des EGMR missachtet werden.

Wie können Rechtsstaatlichkeit und die Beachtung der Menschenrechte angesichts dieser Herausforderungen gesichert und ausgebaut werden?

Rudolf: Alle europäischen Staaten müssen einzeln und gemeinsam entschlossen Maßnahmen ergreifen, wenn ein Staat die Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte missachtet. Wir müssen reagieren, wenn die Unabhängigkeit der Gerichte in einzelnen Staaten angegriffen wird. Wir brauchen Solidarität über die Ländergrenzen hinweg. Denn wenn die Menschenrechte in einem Mitgliedstaat des Europarats unterminiert werden, dann geht das uns alle in Europa an.

Und wir brauchen eine Kultur der Menschenrechte, eine Kultur, in der die Bedeutung der Menschenrechte erkannt wird, in der die Politik ihre Bindung an die Menschenrechte ernst nimmt und die Bevölkerung die Achtung der Menschenrechte einfordert. Die Zivilgesellschaft und die Anwaltschaft sowie Nationale Menschenrechtsinstitutionen müssen im eigenen Land frühzeitig jeglichen Bestrebungen entgegentreten, die den Schutz der Menschenrechte unterminieren.

(U. Sonnenberg)

Online-Konferenz: 70 Jahre Europäische Menschenrechtskonvention Menschenrechtsschutz in Deutschland und Europa

Die Unterzeichnung der Europäischen Menschenrechtskonvention vor 70 Jahren war ein Meilenstein für den Menschenrechtschutz in Europa. Wie können Rechtsstaatlichkeit und die Beachtung der Menschenrechte angesichts aktueller Herausforderungen gesichert und ausgebaut werden?

Dazu sprachen und diskutierten u. a. Bundesjustizministerin Christine Lambrecht, Außenminister Heiko Maas, Stephan Harbarth, Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Marija Pejčinović Burić, Generalsekretärin des Europarats, und Beate Rudolf, Direktorin des Deutschen Instituts für Menschenrechte, bei der Online-Konferenz „70 Jahre Europäische Menschenrechtskonvention. Menschenrechtsschutz in Deutschland und Europa“.

Das Programm der Veranstaltung finden sie hier.

Zum Seitenanfang springen