Aktuelles

Nach Hanau: Debatte über Leerstellen der gesellschaftlichen und rechtlichen Aufarbeitung

· Meldung

Der rassistische Anschlag in Hanau am 19. Februar 2020 hinterlässt Opfer, Angehörige und Freund_innen. Die Verstorbenen fehlen in ihren Familien, ihrem Freundeskreis und ihrem Stadtteil.

Das Deutsche Institut für Menschenrechte und der Migrationsrat Berlin waren am 18. Februar 2021 Gastgeber einer Debatte über die gesellschaftliche und rechtliche Aufarbeitung rassistischer Anschläge. Dabei standen folgende Fragen im Fokus: Wie soll eine Erinnerungs- und Gedenkpolitik aussehen, die die Opfer rassistischer Gewalt in den Mittelpunkt rückt? Was brauchen Opfer und Angehörige? Wie können wir ein kollektives Gedächtnis schaffen? Welche gesellschaftliche Funktion kann oder sollte ein Gerichtsverfahren im Kontext rassistischer Gewalttaten einnehmen? Wie müsste eine strafrechtliche Aufarbeitung genau aussehen, die Angehörige und Betroffene zum Ausgangspunkt nimmt, diese nicht re-traumatisiert, Raum für Schmerz und Erzählungen lässt und anerkennt, dass ein Gerichtsverfahren auch immer ein soziales und politisches Aushandlungsfeld ist? Wie können Trauer, Wut und Frustration von Menschen mit Rassismuserfahrungen als Alltagserfahrungen stärker in das öffentliche Bewusstsein rücken?

Dr. Harpreet Cholia von der Initiative 19. Februar und Vorsitzende des hessischen Flüchtlingsrates erläuterte eingangs, wie die Initiative einen Ort schuf, an dem sich Menschen aus dem Umfeld der Verstorbenen austauschen und unterstützen (Video-Mitschnitt ohne Beitrag von Dr. Cholia).

Erinnerungspolitik für die Betroffenen

Moderiert von Ed Greve, politischer Referent im Migrationsrat Berlin, diskutierten der Jurist Dr. Lino Agbalaka, Vorstandsmitglied des Migrationgsrates, İbrahim Arslan, Aktivist und Überlebender des rassistischen Brandanschlags in Mölln 1992, sowie Isidora Randjelović, Leiterin der Selbstorganisation RomaniPhen und Mitautorin der Studie „Rassismuserfahrungen von Sinti_ze und Rom_nja“ im Auftrag der Unabhängigen Kommission Antiziganismus, über eine würdige Gedenkkultur nach rassistischer Gewalt.

Selbstbestimmtes Gedenken bedeutet, „die Betroffenen von Rassismus zu ermutigen, ihr Gedenken selbst in die Hand zu nehmen“, erklärte İbrahim Arslan. Die gesamtgesellschaftliche Gedenkkultur werde von den – von der mehrheitlich weißdeutschen Gesellschaft dominierten – Institutionen inszeniert. Sie sei nicht für die Betroffenen bestimmt, denen oft nur eine Rolle als Gast zugewiesen werde. „Selbstbestimmtes Gedenken bedeutet, Betroffene zu empowern, ihr eigenes Gedenken, das Institutionen vereinnahmen und sie damit instrumentalisieren, zurück zu erkämpfen“.
„Erinnerung im gesellschaftlichen Sinne muss auf zwei Ebenen erfolgen: auf der einen Seite das Gedenken an die Opfer und auf der anderen das Mahnen, also die Lehre, die wir aus diesem historischen Unrecht ziehen und die Veranwortung, die daraus für die Gesellschaft entsteht“, erklärte Isidora Randjelovic.

„Es geht darum, ihre Namen auszusprechen“

„Würdiges Gedenken an Opfer und Überlebende rassistischer Gewalt arbeitet gegen die entwürdigenden rassistischen Narrative“, so Isidora Randjelovic. „Es geht darum, ihre Namen auszusprechen, ihre Geschichte zu erzählen, sie wieder öffentlich zu Subjekten zu machen.“ Sie betonte, dass die Perspektiven, das Wissen und die Selbstbezeichnungen der Opfer, Überlebenden und ihres Umfelds dafür entscheidend seien. „Würdiges Gedenken braucht Narrative, Träume und gestaltete Orte, zum Beispiel Denkmäler, zu denen Menschen immer wieder zurückkommen können.“

Die Übernahme gesellschaftlicher Verantwortung, bedeute, „nicht zu vergessen, dass Deutschland ein Land ist, das den Kolonialismus und den Genozid an Jüd_innen, an Sint_izze und Rom_nja zu verantworten hat“. „Deswegen sind Hanau, Halle und die vielen vermeintlichen Einzeltaten für uns alle, die mit den rassistischen Anschlägen mitgemeint sind, Migrant_innen, BIPOCs, Jüd_innen, Rom_nja, Sinti_zze, natürlich Kontinuitäten“, so Isidora Randjelovic. Rassismus müsse daher als Gesamtkomplex thematisiert werden. „Das Erinnern muss leider von den Betroffenen, von Bürgerrechtsbewegungen und Aktivist_innen immer wieder erkämpft werden.“

Dr. Lino Agbalaka erläuterte: „Es gibt viele Ideologieelemente, die Deutschland schon lange wie ein Alptraum verfolgen. Es gibt sie seit dem Nationalsozialismus und der Zeit des Kolonialismus. Rassismus ist leider in der Mitte dieser Fragmente“, erklärte er. Deutschland sei mit der Aufarbeitung und Veränderung solcher Inhalte viel weniger vorangekommen, als viele Menschen mit einer weißen, bürgerlichen Perspektive glaubten. Communities of Colour sollten sich aber nicht über rassistische Taten definieren, sondern das Erinnern selbst in die Hand nehmen, betonte er.

Erinnern heißt: Polizei und Justiz verändern

Über die polizeliche und rechtliche Aufarbeitung rassistischer Gewalt diskutierten Onur Özata, Strafverteidiger und Opfervertreter, Sanchita Basu, Geschäftsführerin der Beratungsstelle ReachOut für Opfer rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt sowie Marjam Samadzade, Richterin und Bildungsreferentin, moderiert von Professorin Dr. Beate Rudolf, Direktorin des Instituts.

Bei der rechtlichen Aufarbeitung rassistischer Gewalt kommt es zu eklatanten und wiederkehrenden Fehleinschätzungen und Unzulänglichkeiten auf Seiten von Polizei und Jusitz, die in der Summe zu einer unreichenden Ahndung rassistischer Gewalt führen, war sich die Runde einig. Es bedürfe einer offensiven Auseinandersetzung mit den strukturellen Gründen für die Häufung unzureichender Reaktionen staatlicher Repräsentant_innen auf rassistische Straftaten.

Ein Beispiel hierfür sei, dass Betroffene rassistischer Gewalt von der Polizei in vielen Fällen als Täter_innen behandelt werden, berichtete Sanchita Basu aus der Beratungspraxis von ReachOut.

Auch wenn mehr Personen aus marginalisierten Gruppen zur Polizei gehen würden, ändere das nicht viel, dämpfte Isidora Randjelovic Hoffnungen. Das ritualisierte Handeln der Institution sei tief verankert, erklärte sie. Denn: historisch habe sich die Polizei als Institution entlang der Rassifizierung von Menschen gegründet. Notwendig seien daher autonome, externe Beschwerdestellen mit Machtbefugnissen zur Kontrolle der Polizei, betonte sie.

Die Gäste waren sich einig: Auch die juristische Aufarbeitung rassistischer Gewalt bleibe oft hinter ihrem Anspruch zurück. İbrahim Arslan fasste die Erfahrungen vieler Opfer und Angehöriger zusammen: „Gerechtigkeit können wir nicht vom deutschen Jusitzsystem erwarten“. Mehr Wissen über institutionellen Rassismus sei bei Polizei und Justiz unbedingt notwendig.

So sei die fehlende Fortbildungspflicht für Richter_innen  ein Problem, hob Onur Özata hervor. „Wir müssen anerkennen, dass wir in Deutschland ein Rassismusproblem haben: Rassismus zieht sich durch alle Gesellschaftsschichten“, so das Fazit von Marjam Samadzade.

Die Veranstaltung wurde in Kooperation mit dem Migrationsrat Berlin durchgeführt.
 

Mehr zu diesem Thema

Zum Seitenanfang springen