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Beschwerde-Nr. 39272/98

EGMR (Große Kammer), Urteil vom 04.12.2003, Beschwerde-Nr. 39272/98,
M. C. gegen Bulgarien

1. Sachverhalt

M. C. wurde nach eigenen Angaben im Alter von 14 Jahren am gleichen Abend von zwei volljährigen Bekannten, P. und A., vergewaltigt. P. habe sie in einer verlassenen Gegend im Auto vergewaltigt, indem er sie in den nach hinten verstellten Autositz gepresst und ihre Hände auf ihrem Rücken fixiert habe. Daraufhin sei sie in einem Schockzustand gewesen und habe sich nicht wehren können. Danach habe er sie sowie A. und einen weiteren Freund zum Haus eines Bekannten gefahren. Da A. der ältere Bruder eines Klassenkameraden sei, habe sie ihm vertraut und sich bei ihm in ihrer Hilflosigkeit in Sicherheit gefühlt. Doch auch er habe sie, nachdem sie allein waren, im Erdgeschoss des Hauses vergewaltigt, nachdem er sie gewaltsam auf ein Bett gedrückt und ausgezogen hatte. Sie habe keine Kraft mehr gehabt, sich zu wehren, nur geweint und ihn gebeten, aufzuhören.

2. Verfahrensgeschichte

M. C. wurde am nächsten Tag von ihrer Mutter ins Krankenhaus gebracht. Die Ärzte stellten fest, dass ihr Hymen frisch gerissen war. Auf Anzeige der Mutter hin wurden die beiden Täter festgenommen, jedoch wieder frei gelassen, da sie behaupteten, der Sexualverkehr sei einvernehmlich gewesen. Erst über ein Jahr später vernahm der Ermittler M. C., ihre Mutter sowie Zeuginnen und Zeugen. Die mutmaßlichen Täter wurden als Zeugen gehört und daraufhin die Ermittlungen eingestellt. Nachdem die Staatsanwaltschaft die Wiederaufnahme der Ermittlungen angeordnet hatte, stellten Psychologen und ein Psychiater in verschiedenen Gutachten fest, dass
M. C. sich aus Naivität in die Situation begeben haben und dann in einen plötzlichen Konflikt zwischen sexuellem Interesse und Schuldgefühlen geraten sein müsse, sodass sie sich nicht habe verteidigen können. Weder Gewalteinwirkung noch Drohungen oder Schockzustand seien erkennbar gewesen. Ferner stützten sie in Teilen die Version der Verdächtigen.
Da nicht nachgewiesen werden konnte, ob Gewalt verübt wurde und M. C. Widerstand geleistet oder um Hilfe gerufen hatte, wurden die Ermittlungen nach anderthalb Jahren eingestellt. Insbesondere sei M. C. den Gutachten zufolge aufgrund ihres Alters und ihrer Unerfahrenheit nicht in der Lage gewesen, eine klare Ablehnung des Sexualkontakts zum Ausdruck zu bringen. Rechtsbehelfe gegen diese Entscheidung blieben erfolglos.

3. Beschwerde vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR)

M. C. berief sich in ihrer Beschwerde vor dem EGMR auf Artikel 3 (Verbot der Folter), 8 (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) und 13 (Recht auf wirksame Beschwerde) der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Alle drei Rechte seien verletzt, da der bulgarische Staat die körperliche Unversehrtheit und das Privatleben Einzelner nicht hinreichend schütze. Das bulgarische Recht und seine Anwendung böten keinen effektiven Schutz gegen Vergewaltigung und sexuellen Missbrauch. Ferner stelle Bulgarien keine hinreichend effektiven Rechtsbehelfe zur Verfügung. Strafverfolgung finde nur in den Fällen statt, in denen ein Opfer aktiven Widerstand geleistet habe. Darüber hinaus hätten die Behörden in ihrem Fall nicht effektiv ermittelt.  
Die bulgarische Regierung, gegen die sich die Beschwerde richtete, wies diese zurück, da eine vollständige und effektive Ermittlung erfolgt sei.

4. Entscheidung des EGMR

Der EGMR stellte eine Verletzung von Artikel 3 (Verbot erniedrigender Behandlung) und Artikel 8 EMRK fest. Aufgrund der Tendenz in den europäischen und außereuropäischen Rechtsordnungen, das fehlende Einverständnis als wesentliches Element einer Vergewaltigung anzusehen, seien Staaten verpflichtet, alle nicht einvernehmlichen sexuellen Handlungen zu sanktionieren. Dies gelte auch, wenn das Opfer keinen körperlichen Widerstand geleistet hat, da dies häufig, gerade bei jungen Mädchen, aus psychologischen Gründen geschehe. Ferner gibt der EGMR detaillierte Staatenverpflichtungen für den Fall vor, dass es bei widerstreitenden Aussagen hinsichtlich des „Einverständnisses“ an objektiven Beweisen fehlt.

4.1 Verpflichtung der Staaten, Vergewaltigungen durch Private zu ermitteln und die Täter zu bestrafen

Der EGMR entnimmt seiner Rechtsprechung in Hinblick auf Vergewaltigungen Rechtsetzungs- und Rechtsanwendungsverpflichtungen: Artikel 3 und 8 EMRK enthielten die Verpflichtung, Strafrechtsvorschriften zu schaffen, die Vergewaltigungen effektiv unter Strafe stellen, und diese in der Praxis durch effektive Ermittlungen und Strafverfolgung anzuwenden (Rz. 153). Damit verbindet er die Anforderungen aus beiden Vorschriften.
Im Einzelnen enthalte Artikel 3 in Verbindung mit Artikel 1 EMRK die positive Verpflichtung, sicherzustellen, dass Privatpersonen keinen Misshandlungen – durch den Staat oder durch Private – ausgesetzt werden (siehe u. a. "A. gegen das Vereinigte Königreich", Beschwerde-Nr. 25599/94). Dies schließe unter Umständen die Verpflichtung des Staates ein, von Amts wegen zu ermitteln ("Assenov u. a. gegen Bulgarien", Beschwerde-Nr. 24760/94), auch wenn es sich nicht um eine Misshandlung durch Staatsbedienstete handele ("Cavelli und Ciglio gegen Italien", Beschwerde-Nr. 32967/96).
In Bezug auf Artikel 8 EMRK wiederholt der EGMR im Wesentlichen die Anforderungen aus "X und Y gegen die Niederlande" (Beschwerde-Nr. 8978/80): Die Verpflichtung des Staates, das Privatleben zu schützen, könne unter Umständen dazu führen, dass der Staat Maßnahmen im Verhältnis zwischen Privatpersonen ergreifen müsse. Trotz des staatlichen Beurteilungsspielraums könnten schwere Verletzungen zentraler Werte – wie Vergewaltigungen – nur durch ein effektives Strafrecht verhindert werden; besonders Kinder und gefährdete Personen hätten einen Anspruch auf effektiven Schutz.
Der EGMR betont am Rande, dass er nur untersucht, ob die fraglichen Gesetze, die Verwaltungspraxis und ihre Anwendung im Einzelfall verglichen mit den gerügten Ermittlungsfehlern so schwere Mängel aufweisen, dass diese eine Verletzung der Artikel 3 und 8 EMRK darstellen. Dagegen prüfe er keine isolierten Fehler oder Unterlassungen und könne weder die Beweiswürdigung durch die Behörden noch die strafrechtliche Verantwortlichkeit des mutmaßlichen Täters untersuchen.

4.2 (Fehlendes) Einverständnis als wesentliches Kriterium einer Vergewaltigung

Veränderungen in der gesellschaftlichen und rechtlichen Beurteilung
Nach einer Analyse der Gesetzeslage in ausgewählten Staaten stellt der EGMR fest, dass die kontinentalen Straftatbestände fast überall noch das Merkmal der Gewalt enthielten, während in den Common-Law-Staaten das Element des Widerstands aus Gesetzen und Rechtsprechung entfernt worden sei. Auch in der kontinentalen Rechtstradition sei der Nachweis körperlichen Widerstands in der Praxis nicht mehr erforderlich, da dort in Rechtsprechung und juristischer Literatur anerkannt werde, dass das Fehlen des Einverständnisses der zentrale Bestandteil des Vergewaltigungstatbestandes sei. Ferner werde in einigen Ländern – unabhängig vom Wortlaut der Tatbestände – die Strafbarkeit aller nicht-einverständlichen Sexualakte durch Gesetzesauslegung erreicht. Dies geschehe durch die Interpretation von Begriffen wie "Zwang", "Gewalt", "Drohung", "List", "Überraschung" und "Nötigung" oder durch Kontext-sensible Beweiswürdigung. Dieser Aspekt der Auslegung und Rechtsfortbildung scheint aus der Sicht des EGMR zentral zu sein (vgl. Rz. 171, 177 und unten, 4.4).
Auch die internationale Strafgerichtsbarkeit reflektiere mit ihrer Rechtsprechung – wenn auch im Kontext bewaffneter Konflikte – den weltweiten Trend, das Fehlen des Einverständnisses als zentrales Element von Vergewaltigung und sexuellem Missbrauch anzusehen. Schließlich spielten das wachsende Verständnis für das psychologische Opferverhalten und die Entwicklung der Gesellschaften hin zu effektiver Gleichberechtigung und Respekt für die Sexualautonomie eine Rolle.

Konsequenzen für die Staatenverpflichtungen unter Artikeln 3 und 8 EMRK (Rz. 154 ff.)
Der EGMR stellt fest, dass eine restriktive Herangehensweise an die Verfolgung von Sexualdelikten – etwa durch das Erfordernis, körperlichen Widerstand beweisen zu müssen – dazu führen könne, dass bestimmte Arten von Vergewaltigung nicht bestraft würden. Dies gefährde jedoch den effektiven Schutz der sexuellen Selbstbestimmung. Nach aktuellen Maßstäben umfasse die Staatenverpflichtung unter den Artikeln 3 und 8 EMRK aber, dass jeder nicht-einverständliche Sexualakt unter Strafe gestellt und effektiv mit Mitteln des Strafrechts verfolgt werde. Dies erfasse ausdrücklich Fälle, in denen das Opfer keinen körperlichen Widerstand geleistet habe (Rz. 166).

Anwendung dieser Kriterien und Beweisstandard (Rz. 177 ff.)
Der EGMR untersucht zunächst den Wortlaut des bulgarischen Gesetzes und stellt fest, dass es keinen körperlichen Widerstand voraussetzt und sich die Definition der Vergewaltigung nicht grundlegend von derjenigen anderer Staaten unterscheidet. Danach wiederholt er, dass es aber letztlich entscheidend auf die Auslegung der Rechtsbegriffe wie "Gewalt" oder "Drohung" durch die Gerichte ankomme. Beispielsweise genüge es in einigen Staaten für "Gewalt" in Vergewaltigungsfällen, wenn der Täter einen Sexualakt "gegen den Willen" des Opfers fortsetzt oder den Körper des Opfers dazu festhält oder manipuliert.
Solche Rechtsprechung liegt dem EGMR für Bulgarien nicht vor. Somit genügt es dem EGMR für eine Verletzung, dass die Beschwerdeführerin die restriktive Praxis der Strafverfolgung vernünftig begründet, Bulgarien aber keinen Gegenbeweis erbracht hat. Insbesondere existierten keine höchstrichterliche Rechtsprechung oder Studien zu der Frage, ob alle nicht-einverständlichen Sexualakte in der Praxis strafbar sind. Die überwiegende Mehrheit aller höchstrichterlichen Entscheidungen, die die bulgarische Regierung vorgelegt hatte, betrafen Vergewaltigungen mit erheblichem Gewalteinsatz. Dies sieht der EGMR als Indiz dafür an, dass nicht alle nicht-einverständlichen Sexualakte verfolgt werden.

4.3 Anforderungen an effektive Ermittlungen bei Vergewaltigungsvorwürfen gegen Private im Falle widerstreitender Sachverhaltsdarstellungen (Rz. 177 ff.)

a. Aus der Sicht des EGMR haben die bulgarischen Behörden versäumt, alle vorhandenen Möglichkeiten auszuschöpfen, die Begleitumstände aufzuklären und die Glaubhaftigkeit der widerstreitenden Aussagen zu bestimmen. Dazu seien sie verpflichtet gewesen, da es an objektiven Beweisen fehlte und sich zwei unvereinbare Beschreibungen der Sachlage gegenüberstanden. Die Erforderlichkeit einer Kontext-sensiblen Überprüfung der Glaubhaftigkeit und einer genauen Prüfung aller Begleitumstände habe sich aufgedrängt. Dabei sei besonders die Herangehensweise von Ermittlern und Staatsanwaltschaft zu kritisieren.
b. Bei Fehlen objektiver Beweise seien die staatlichen Behörden generell verpflichtet, alle Fakten aufzuklären und auf der Basis all dieser Begleitumstände zu entscheiden. Dabei müssten die Ermittlungen und ihre Schlussfolgerungen an der Frage des (fehlenden) Einverständnisses ausgerichtet werden.

Im Einzelnen zählt der EGMR folgende Versäumnisse auf:

  • Die bulgarischen Behörden hätten die Zeuginnen und Zeugen mit gegensätzlichen Aussagen nicht konfrontiert.
  • Sie hätten es unterlassen, den Ablauf des Abends genau und präzise zu ermitteln.
  • M. C. und ihr Rechtsbeistand hätten nicht die Gelegenheit bekommen, die Zeuginnen und Zeugen (denen sie Meineid vorwarf) zu befragen.
  • Die Staatsanwaltschaft habe in ihren Entscheidungsbegründungen die Glaubhaftigkeit der Aussagen von P. und A. nicht hinterfragt, obwohl einige Aussagen höchst fragwürdig erschienen.
  • Bedeutsam sei, dass Ermittler wie Staatsanwaltschaft die Tat als "date rape" eingeordnet und daraus die irrige Konsequenz gezogen hätten, dass ein fehlendes Einverständnis nur bei objektiven Anhaltspunkten (Spuren von Gewalt sowie Widerstand oder Hilferufe) beweisbar gewesen wäre. Die Staatsanwaltschaft habe zwar erkannt, dass die Beschwerdeführerin möglicherweise nicht einverstanden gewesen sei. Sie sei aber fälschlich davon ausgegangen, dass daraus mangels beweisbaren Widerstandes nicht geschlossen werden konnte, dass die Täter von dem fehlenden Einverständnis wussten.
  • Ferner hätten die Ermittlungsbehörden versäumt, zu prüfen, ob sich der Vorsatz der Täter mithilfe aller Beweisumstände beweisen ließe. Hier hätte ermittelt werden sollen, ob M. C. absichtlich von den drei Männern zu dem entlegenen Ort gelockt worden sei, um eine Zwangslage zu schaffen. Auch sei die Glaubhaftigkeit der Aussagen der drei Männer und der von ihnen benannten Zeugen nicht geprüft worden.
  • Weiterhin hätten die Behörden den Fokus zu sehr auf "direkte" (objektive) Beweise gelegt. In der Praxis haben sie sich so verhalten, als ob die Frage des Widerstandes das zentrale Element des Vergewaltigungstatbestandes sei.
  • Die Behörden hätten der speziellen Verletzlichkeit junger Personen und den besonderen psychologischen Faktoren bei der Vergewaltigung von Minderjährigen (zu) wenig Gewicht beigemessen.
  • Ferner sei es zu entscheidenden Verzögerungen bei den Ermittlungen gekommen.

4.5 Entschädigung

Der EGMR sprach der Beschwerdeführerin wegen des erlittenen Leides sowie des – jedenfalls teilweise durch das Ermittlungsdefizit verursachten – Traumas eine Entschädigung in Höhe von 8.000 Euro zu.

Entscheidung im Volltext:

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