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Leben in Afghanistan: Einschüchterung, Vergeltung und Gewalt

Richard Bennett, Sonderberichterstatter für die Lage der Menschenrechte in Afghanistan. © Raoul Wallenberg Institute

· Meldung

Seit der Machtergreifung der Taliban im August 2021 kommt es in Afghanistan zu schwersten Menschenrechtsverletzungen. Im Interview spricht Richard Bennett, UN-Sonderberichterstatter für die Lage der Menschenrechte in Afghanistan, über die aktuelle Lage im Land und über die grundlegenden Schutzverpflichtungen Deutschlands.

Seit der Machtergreifung der Taliban im August 2021 kommt es in Afghanistan zu schwersten Menschenrechtsverletzungen: Minderheiten werden brutal verfolgt, friedliche Proteste gewaltsam niedergeschlagen und Frauen unterdrückt. Wie sieht die menschenrechtliche Situation in Afghanistan aktuell aus?

Richard Bennett: Seit der Machtübernahme der Taliban hat sich die Menschenrechtslage in Afghanistan kontinuierlich verschlechtert. Die Rechte der Frauen werden massiv unterdrückt, ethnische und religiöse Minderheiten verfolgt, das Verschwindenlassen von Personen ist weit verbreitet, ebenso außergerichtliche Tötungen, willkürliche Inhaftierungen und Folter. Es herrscht ein hartes Vorgehen gegen die Medien und jede Form von Protest, das gilt auch für friedliche Demonstrationen von Frauen. Afghanistan ist das einzige Land, in dem Mädchen keine weiterführende Schule besuchen dürfen und Frauen von der Universität ausgeschlossen sind. Die fortwährenden Unruhen haben außerdem eine humanitäre Krise herbeigeführt, da der Zugang zu lebenswichtigen Ressourcen fehlt: Nahrungsmittel, Wasser und medizinische Versorgung sind Mangelware. Besonders gefährlich ist das für vulnerable Personen wie Kinder und ältere Menschen. Die Rückkehr der Taliban an die Macht hat alle Fortschritte zunichtegemacht, die in den beiden vergangenen Jahrzehnten bei der Wahrnehmung grundlegender Menschenrechte und Freiheiten erzielt wurden. Es gibt jetzt so viele Menschenrechtsprobleme in Afghanistan, dass ständige Aufmerksamkeit erforderlich ist, um sie zu überwachen und anzusprechen. Gleichzeitig müssen wir weiterhin humanitäre Hilfe leisten und versuchen, darauf hinzuwirken, dass die De-facto-Behörden ihre Politik ändern und der Verantwortung des Staates nachkommen, den Schutz der Menschenrechte und die Gleichheit aller Afghan*innen zu gewährleisten – gemäß den von Afghanistan ratifizierten internationalen Menschenrechtsverträgen.

Zahlreiche afghanische Menschenrechtsverteidiger*innen, Medien- und Kulturschaffende, Frauenrechtlerin*innen, afghanische Ortskräfte und andere besonders gefährdete Menschen konnten fliehen. Aber es gibt auch viele, denen die Ausreise bisher nicht gelungen ist. Wie bedrohlich ist die Lage im Land für sie?

Bennett: Ihre Lage ist gleich in mehrfacher Hinsicht schwierig und gefährlich. Die im Land verbliebenen Menschen befinden sich in einer bedrohlichen Situation, das gilt sowohl in Hinblick auf ihre Sicherheit und ihr körperliches Wohlergehen als auch ihre grundlegenden Menschenrechte. Menschenrechtsverteidiger*innen, Journalisten*innen und Frauenrechtler*innen schweben in großer Gefahr, weil die Werte, für die sie sich starkmachen in den Augen der Taliban als unislamisch gelten oder als gegen die afghanische Kultur verstoßend. Abweichende Meinungen und jede Form von Protest werden generell nicht geduldet. Einigen gelingt es zwar noch, ihre Arbeit im Stillen fortzusetzen, aber nur um den Preis, dass sie und ihre Familien ständigen Einschüchterungen, Vergeltungsmaßnahmen und Gewalt ausgesetzt sind. Für Frauenrechtsaktivist*innen und Frauen im Allgemeinen kommt hinzu, dass sie einem erhöhten Risiko von geschlechtsspezifischer Gewalt und Diskriminierung ausgesetzt sind. Die ehemals weitgehend freie Presse steht heute de facto weitgehend unter Kontrolle der Behörden, auch wenn es noch ein paar afghanische Medien gibt, die im Ausland publizieren. Unter diesen Bedingungen zu leben bedeutet, ununterbrochen unter Stress zu stehen, und dafür bezahlen die Leute auch mit ihrer psychischen Gesundheit. Viele Afghan*innen wollen das Land verlassen. Andere sind entschlossen, den Kampf fortzusetzen. Nicht alle werden das Land verlassen können. Viele werden eher in der Region bleiben müssen, als sich in Länder wie Deutschland in Sicherheit bringen zu können.

Was sollte Deutschland, das nach der Machtübernahme 30.300 Menschen aufgenommen hat, für besonders schutzbedürftige Afghan*innen jetzt weiterhin tun? Wozu ist Deutschland menschenrechtlich verpflichtet? Gilt diese Verpflichtung auch für andere Staaten?

Bennett: Deutschland hat mit der Umsiedlung von bisher 30.300 Afghan*innen einen wichtigen Schritt getan. Aber damit allein ist es noch nicht all seinen Verpflichtungen nachgekommen. Die Zahl der schutzbedürftigen Afghan*innen, die aufgrund ihrer ehemaligen Zusammenarbeit mit deutschen Militäreinheiten oder zivilen Organisationen in Afghanistan gefährdet sind, ist bedeutend höher. Oder etwa auch von Personen, die sich für Menschenrechte und Gleichberechtigung der Frauen eingesetzt haben. Deutschland hat aufgrund seines internationalen militärischen und zivilen Einsatzes und des Abzugs der internationalen Truppen im Jahr 2021 eine grundlegende Verpflichtung zum Schutz der Menschenrechte gegenüber den Menschen in Afghanistan, die sich für die Ziele dieses Einsatzes eingesetzt haben. Die Aufnahmeprogramme des Bundes sollten eine zeitnahe und faire Bewertung von Einzelfällen gewährleisten, einschließlich der Identifizierung von schutzbedürftigen Gruppen wie Frauen, Kindern, Minderheiten und Personen, die mit internationalen Organisationen zusammengearbeitet haben, und ihnen entsprechend ihrer jeweiligen Situation beschleunigten Schutz gewähren. Diese Verpflichtung gilt im Übrigen nicht nur für Deutschland, sondern auch für andere Staaten, da sie auf den internationalen Menschenrechten basiert.

In Bezug auf Afghan*innen, die in die Nachbarstaaten oder auch nach Europa geflohen sind: Die Flüchtlingskonvention von 1951 und das dazugehörige Protokoll von 1967 verpflichten Staaten, Flüchtlinge unabhängig von ihrer Herkunft zu schützen und ihnen Asyl zu gewähren.Die internationale Gemeinschaft kann gemeinsam die dringenden Bedürfnisse gefährdeter Bevölkerungsgruppen in Krisenzeiten erfüllen, vorausgesetzt, sie arbeitet zusammen und hält die Werte des Mitgefühls und der Solidarität hoch.

Wofür sollte sich Deutschland auf internationaler Ebene einsetzen?

Bennett: Das internationale Engagement Deutschlands in Afghanistan sollte sich auf internationale Menschenrechtsstandards und humanitäre Grundsätze stützen. Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt für einen weiteren Rückzug aus Afghanistan. Vielmehr sollte Deutschland weiter auf Kurs bleiben und die Afghan*innen, die sich seit 20 Jahren für die Werte der Menschenrechte und der Gleichberechtigung, auch zwischen den Geschlechtern, einsetzen, nicht im Stich lassen. Die Gewährleistung der Menschenrechte und die Bereitstellung angemessener humanitärer Hilfe darf nicht mit einer Anerkennung der von den Taliban geführten De-facto-Regierung gleichgesetzt werden. Als großes Land mit starken Verbindungen zu Afghanistan sollte Deutschland weiterhin eine führende Rolle auf zwischenstaatlicher Ebene spielen, sowohl im Menschenrechtsrat als auch in der Generalversammlung, wo Deutschland die Federführung bei der jährlichen Resolution zu Afghanistan hat. Ebenso sollte Deutschland eine führende Rolle in der EU übernehmen und mit anderen regionalen UN-Gruppen und Ländern, die Afghanistan nahestehen, zusammenarbeiten, um die Menschenrechte und die Rechte der Frauen im Einklang mit der feministischen Außenpolitik Deutschlands zu fördern. Wie bereits erwähnt, sollte Deutschland seine Bemühungen fortsetzen, Afghan*innen Asyl und Schutz zu gewähren, einschließlich der Schaffung sicherer und legaler Fluchtwege. Deutschland sollte außerdem andere Länder dazu anhalten, ihrer Verantwortung in dieser Hinsicht ebenfalls nachzukommen.

Sie untersuchen als UN-Sonderberichterstatter seit 1. April 2022 die Menschenrechtssituation in Afghanistan. Was hat sie in den vergangenen Monaten im Kontext Ihrer Arbeit am meisten beeindruckt?

Bennett: Während meiner fast anderthalbjährigen Tätigkeit als Sonderberichterstatter für Menschenrechte in Afghanistan hat mich besonders beeindruckt, mit welchem Mut und welcher Entschlossenheit viele Afghan*innen weiter für ihre Menschenrechte kämpfen, trotz aller Widrigkeiten. Das gilt insbesondere für Frauen, die unter einem frauenfeindlichen Regime zu leiden haben. Ich bin deshalb auch zuversichtlich, dass die Afghan*innen Veränderungen herbeiführen und einen dauerhaften Frieden auf der Basis der Menschenrechte schaffen werden, auch wenn der Weg noch weit ist. Unsere Aufgabe ist es, ihnen zuzuhören, ihnen zur Seite zu stehen und Maßnahmen zu ergreifen, die das Streben nach einer integrativen und auf Rechten basierenden Zukunft unterstützen.

 

Zur Person:

Am 24. und 25. August ist Richard Bennett, UN-Sonderberichterstatter für die Lage der Menschenrechte in Afghanistan, auf Einladung des Auswärtigen Amtes zu Besuch in Berlin. Ziel des Besuchs ist ein ausführlicher Austausch über die Menschenrechtssituation in Afghanistan. Der Menschenrechtsrat richtete das Mandat des UN Sonderberichterstatters zu Afghanistan im Oktober 2021 ein und ernannte Richard Bennett im April 2022 zum Sonderberichterstatter. Herr Bennett ist derzeit Gastprofessor am Raoul Wallenberg Institut in Lund, Schweden. Er war bereits mehrfach in Afghanistan tätig und spielte eine wichtige Rolle bei der Förderung von Transitional-Justice-Prozessen. Er setzte sich für Kinderrechte, Rechtsstaatlichkeit, Rechte von Menschen mit Behinderungen sowie eine Reihe von wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten ein und für den Schutz von Zivilisten und Menschenrechtsverteidiger*innen.

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