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Mitteilung Nr. 48/2010

CERD, Auffassungen vom 26.02.2013, Mitteilung Nr. 48/2010, Türkischer Bund Berlin-Brandenburg gegen Deutschland

1. Sachverhalt

Thilo Sarrazin (S.), ehemaliger Berliner Finanzsenator und damaliges Vorstandsmitglied der Bundesbank, gab 2009 in der Kulturzeitschrift "Lettre International" ein Interview mit dem Titel "Klasse statt Masse: von der Hauptstadt der Transferleistung zur Metropole der Eliten". Dort äußerte er sich unter anderem über Berlinerinnen und Berliner mit türkischer und arabischer Migrationsgeschichte. Er sagte beispielsweise, dass "eine große Anzahl an Arabern und Türken in dieser Stadt [...] keine produktive Funktion [habe], außer für den Obst- und Gemüsehandel", dass diese Bevölkerungsgruppe "ständig neue kleine Kopftuchmädchen produzier[e]", dass "ständig neue Bräute nachgeliefert" würden und dass "[d]ie Türken [...] Deutschland genauso [eroberten], wie die Kosovaren das Kosovo erobert haben: durch eine höhere Geburtenrate". Ferner äußerte er: "Bei den Kerngruppen der Jugoslawen sieht man dann schon eher 'türkische' Probleme". Sarrazin sprach von "Unterschichtengeburten" und "fortwährend negativer Auslese". Ferner meinte er, dass "türkische Jungen nicht auf weibliche Lehrer hör[t]en, weil ihre Kultur so [sei]" und dass "große Teile" "der Araber und Türken" "weder integrationswillig noch integrationsfähig" seien. Schließlich erfolgte folgende Aussage: "Man muß davon ausgehen, daß menschliche Begabung zu einem Teil sozial bedingt ist, zu einem anderen Teil jedoch erblich. Der Weg, den wir gehen, führt dazu, daß der Anteil der intelligenten Leistungsträger aus demographischen Gründen kontinuierlich fällt."

Diese Äußerungen erregten großes Aufsehen in den Medien und in der Öffentlichkeit, das sich durch sein viel verkauftes Buch "Deutschland schafft sich ab" 2010 weiter verstärkte.

Der Türkische Bund Berlin-Brandenburg (TBB), der laut seiner Satzung als Dachverband die Interessen der Menschen türkischer Herkunft in der Region wahrnimmt, erstattete neben zwei Mitgliedern des TBB im Oktober 2009 Strafanzeige gegen S. wegen Volksverhetzung (§ 130 Strafgesetzbuch (StGB)), da er Menschen mit türkischer und arabischer Migrationsgeschichte in dem Interview als minderwertig darstelle und ihnen ihre gesellschaftliche Daseinsberechtigung abspreche.

Die Staatsanwaltschaft stellte das Verfahren wegen Volksverhetzung und Beleidigung (§ 185 StGB)  bereits Mitte November 2010 mangels Tatverdachts ein (Geschäftszeichen: 81 Js 4071/09). Die Äußerungen seien von der Meinungsfreiheit (Artikel 5 Absatz 1 Grundgesetz) gedeckt. Sie stellten einen Beitrag zu einer intellektuellen Debatte dar, die für die Öffentlichkeit große Bedeutung habe. Zudem könne eine Bevölkerungsgruppe nicht beleidigt werden.

Die Beschwerde des TBB gegen die Einstellung der Ermittlungen erklärte der Generalstaatsanwalt für unzulässig, da der TBB selbst nicht Verletzter sei. Auch die Beschwerden der beiden Mitglieder hatten keinen Erfolg. Der Generalstaatsanwalt entschied zur Sache, dass die Entscheidung der Staatsanwaltschaft nicht zu beanstanden sei. Sarrazin habe sich im Rahmen einer kritischen Debatte zu strukturellen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Problemen Berlins geäußert (Geschäftszeichen: 1 Zs 3191/09).

2. Verfahren vor dem Anti-Rassismus-Ausschuss (CERD)

Argumente der Parteien
Der TBB legte 2010 vor dem UN-Anti-Rassismus-Ausschuss (CERD) im eigenen Namen Beschwerde ein. Er stützte sich dabei auf Artikel 2 Absatz 1 Buchstabe d, 4 Buchstabe a und 6 des Internationalen Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form von rassistischer Diskriminierung (Anti-Rassismus-Konvention; ICERD).

Diese Vorschriften seien verletzt, da Deutschland keinen angemessenen strafrechtlichen Schutz gegen die rassistisch diskriminierenden und stark beleidigenden Aussagen von S. gewährt habe. Der TBB beruft sich dabei auf die Forderungen in den Schlussbemerkungen des CERD zum deutschen Staatenbericht vom 13.08.2008. Dort hatte CERD kritisiert, dass es an einer klaren, vollständigen Definition rassistischer Diskriminierung im deutschen Rechtssystem fehle. Der Ausschuss hatte Deutschland aufgefordert, seine Herangehensweise bei der Bekämpfung von Rassismus auszudehnen.

Ferner genieße S. aufgrund seiner hervorgehobenen Stellung besondere Autorität und besonderes Ansehen in der Bevölkerung, die seine nicht durch Artikel 5 Grundgesetz gedeckten Aussagen deshalb als wahr bewerte. Auch wenn S. nicht als Staatsbediensteter gehandelt habe, sollte CERD ihn als solchen behandeln, da er in der Öffentlichkeit so wahrgenommen werde. Deutschland sei damit verpflichtet, solche Äußerungen zu unterbinden.

Die Äußerungen steigerten die Vorurteile der Bevölkerung und schürten das gesellschaftliche Klima, das von versteckter Aufforderung zu rassistischem Hass gegen die türkische Bevölkerung geprägt sei. Diese Entwicklung sei durch das Erscheinen des Buches noch verstärkt worden. S. habe rassistische Äußerungen salonfähig gemacht; 55 % der Deutschen stimmten islamfeindlichen Thesen zu. Kritische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler seien Hass-E-Mails und Todesdrohungen ausgesetzt worden. Verbale und körperliche Angriffe auf Migrantinnen und Migranten hätten zugenommen.

S. wäre nach der bisherigen Rechtsprechung von den Behörden anders behandelt worden, wenn sich seine Beleidigungen gegen Jüdinnen und Juden gerichtet hätten. Der Staat habe demnach die Strafgesetze eng ausgelegt und Angehörige muslimischer Glaubensrichtungen ungleich behandelt.

Artikel 4 Buchstabe a ICERD sei verletzt, da eine effektive Strafverfolgung wegen der Einstellung der Ermittlungen nicht stattgefunden habe. Damit dulde der deutsche Staat stillschweigend eine Wiederholung des Geschehenen, sodass er entgegen Artikel 6 ICERD keinen effektiven Schutz gegen solche Äußerungen gewähre. (Rz. 3.1-3.4; 5.1-5.5; 7.1-7.2; 9).

Ferner sei seine Beschwerde zulässig, so der TBB. Er organisiere als Verband für Menschen türkischer Herkunft in Berlin kulturelle Veranstaltungen, berate Mitglieder gerichtlich und außergerichtlich in Diskriminierungsfragen, vertrete ihre Interessen und setze sich gegen Diskriminierung von Menschen türkischer Herkunft in der deutschen Gesellschaft ein. Durch die negativen Werturteile von S. über die von ihm vertretene Gruppe sei neben der gesamten Gruppe der Verband selbst in seiner Integrität verletzt und in seiner Arbeit beeinträchtigt. So habe die Organisation E-Mails erhalten, die die Thesen von S. unterstützten und sich auf den Vorrang der Meinungsfreiheit beriefen. Ganze Teile der Gesellschaft, darunter rechtsextremistische Parteien und Gruppierungen, äußerten sich unterstützend. Durch die Einstellung des Verfahrens und die Straflosigkeit der Äußerungen seien auch die Rechte des Verbandes sowie die Rechte seiner Mitglieder verletzt (Rz. 2.8). Ferner vertrete der TBB auch die Interessen seiner Mitglieder, die wegen Todesdrohungen und des allgemeinen Klimas nicht selbst Beschwerden einlegen wollten (Rz. 7.1).

Die deutsche Bundesregierung, gegen die sich die Beschwerde richtete, wies die Beschwerde als unzulässig und unbegründet zurück.

Die Beschwerde sei unzulässig, da der TBB nicht beschwerdeberechtigt sei. Es fehle ihm die Opfereigenschaft. Der TBB sei nur in Berlin und Brandenburg tätig und könne anders als andere Verbände nicht für alle türkisch- und arabischstämmigen Deutschen sprechen. Selbst in der Region vertrete er nur 26 Organisationen; viele andere ständen in keiner Verbindung zu ihm. Der TBB sei nicht in eigenen Rechten verletzt. Ein Dachverband könne nicht in seiner Integrität verletzt werden. Für die Störung seiner Arbeit habe der TBB im Vergleich zur Rechtsprechung des CERD nicht genügend vorgetragen; die E-Mails seien nicht erheblich genug.

Die beiden Mitglieder hätten nur deshalb keine Beschwerden eingelegt, weil sie den Rechtsweg nicht erschöpft hätten. Ihre Angst und Demütigung werde vom TBB in Anbetracht der Fakten übertrieben dargestellt.

Die Beschwerde sei unbegründet, da Deutschland seine Verpflichtungen aus dem Übereinkommen nicht verletzt habe. Die Bundesregierung betont, dass sie die Auffassungen von S. ablehne. Dies bedeute aber nicht, dass Deutschland zur Strafverfolgung verpflichtet gewesen sei. Die Einstellungsentscheidung sei rechtmäßig gewesen, da der Tatbestand der Volksverhetzung nicht erfüllt sei. Es komme nicht auf das subjektive Empfinden der Betroffenen, sondern auf die Gefährdung des öffentlichen Friedens an. Die Sarrazin-Debatte stelle keine Gefährdung des öffentlichen Friedens dar. Rassistisch motivierte Verbrechen verfolge Deutschland mit Bestimmtheit; die Äußerungen seien aber von der Meinungsfreiheit im Rahmen einer öffentlichen Debatte gedeckt. Die Bestrafung wegen der Äußerung einer eigenen Meinung sei nur in absoluten Ausnahmefällen möglich; solche lägen nicht vor. Die Äußerungen seien zwar polemisch und sprachlich unangebracht gewesen, jedoch habe S. weder Bevölkerungsteile als minderwertig betrachtet noch ihnen die Menschenwürde abgesprochen. S. habe nicht zu Gewalt und Rassenhass aufgerufen, sondern seine persönliche Meinung ausgedrückt.

Wichtige Teile der Bevölkerung und Personen des öffentlichen Lebens hätten ihm widersprochen. Es sei unwahr, dass die Bevölkerungsmehrheit ihm zugestimmt habe und in ihrem latenten Rassismus bestärkt worden sei. Es habe auch kein gesteigertes Risiko für den TBB oder seine Mitglieder gegeben.

Der Tatbestand der Volksverhetzung genüge im Übrigen den Anforderungen von Artikel 4 Buchstabe a des Übereinkommens und sehe angemessen schwere Strafen vor. Deutschland stelle die Strafverfolgung grundsätzlich durch das Legalitätsprinzip  sicher. Auch wenn die Generalstaatsanwaltschaft die Beschwerde als unzulässig abwies, habe sie doch in ihrer Aufsichtsrolle auch die Begründetheit geprüft und verneint und somit das Recht auf wirksame Beschwerde gewahrt (Rz. 4.1-4.7; 6.1-6.3; 10.1-10.2).

Stellungnahme des Deutschen Instituts für Menschenrechte (Rz. 8.1-8.4)
Das Deutsche Institut für Menschenrechte hat im Rahmen des Verfahrens eine Stellungnahme abgegeben, die vom Ausschuss nicht als Drittintervention zugelassen und deshalb über den Beschwerdeführer, den TBB, eingeführt wurde. Darin verweist es einerseits darauf, dass die Äußerungen den Tatbestand der Volksverhetzung erfüllten, andererseits darauf, dass der Einstellungsbescheid offensichtlich unzulässige Kontexterwägungen enthalte.

Das Institut kritisiert zunächst, dass der Begriff "Rassismus" in Deutschland entgegen internationaler Standards noch immer nur auf Rechtsextremismus bezogen werde und die Äußerungen von S. vielfach nicht als rassistisch bewertet würden. Dies hätten neben CERD auch schon die Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz (ECRI) und der Sonderberichterstatter über Rassismus bemängelt. Deutschland blende Rassismus in der gesellschaftlichen Mitte aus. S. sei in weiten Teilen der Gesellschaft und in den Medien als Tabubrecher und politischer Realist dargestellt worden. In den Medien seien allgemein "charakterliche  Defizite" - synonym für Menschen muslimischen Glaubens - von "Türken" oder "Arabern" diskutiert worden. Selbst einige Amtsträgerinnen und Amtsträger hätten Äußerungen von S. aufgenommen, was zur weiteren Stigmatisierung von Musliminnen und Muslimen und zu einer Verschlechterung des gesellschaftlichen Klimas geführt habe.

Das Institut betont, dass die Meinungsfreiheit ein zentrales Menschenrecht sei. Deshalb müsse Artikel 5 Grundgesetz aber nicht so ausgelegt werden, dass er rassistische Äußerungen gegen Minderheiten schütze. Auch nach deutschem Verfassungsrecht müsse die Meinungsfreiheit im Einzelfall gegen andere verfassungsrechtlich geschützte Interessen abgewogen werden. Das Institut trägt vor, dass die Menschenwürde gegenüber der Meinungsfreiheit überwiege. Die Äußerungen von S. in dem Interview erfüllten alle Kriterien von Rassismus und verstießen gegen die Menschenwürde. Sie enthielten Bezüge zur Rassentheorie und stellten die Individualität von Menschen in Frage. S. trenne die Bevölkerung in "wir" und "die anderen" ("Türken" und "Araber"), wobei er der letzteren Gruppe schlechte Eigenschaften und Verhaltensweisen nachsagt. Seine Äußerungen setzten Menschen herab und machten sie lächerlich. Er spreche von Menschen wie von Produkten ("Bräute" werden "geliefert", "Kopftuchmädchen" "produziert") und spreche ihnen deshalb das Menschsein ab.

Zudem habe die Staatsanwaltschaft in ihrer Einstellungsentscheidung irrelevante Erwägungen zugrunde gelegt. Sie entschuldige die Äußerungen von S. und seine "Polemik" mit seiner vermeintlichen Sachkunde als früherer Senator Berlins. Wegen seiner Sachkunde befinde die Staatsanwaltschaft, dass er einen legitimen Beitrag zur Debatte erbracht habe. Dies führe im Ergebnis zu einem besonderen und damit willkürlichen Schutz von Personen des öffentlichen Lebens bei rassistischen Äußerungen und letztlich zu einer schwerwiegenden Legitimierung durch die Justiz. Das Recht werde hier ungerechtfertigterweise anders angewandt.

Das Institut regte an, die Schulung von Staatsanwaltschaft und Richterschaft zum modernen Rassismusbegriff und den Auswirkungen von Rassismus zu empfehlen.

3. Entscheidung des Anti-Rassismus-Ausschusses

Der Fachausschuss stellte eine Verletzung von Artikel 2 Absatz 1 Buchstabe d in Verbindung mit Artikel 4 und 6 ICERD in Verbindung mit seinen allgemeinen Empfehlungen Nr. 31 (2005) und 15 (1993) fest (Rz. 13). Deutschland habe seine Pflicht verletzt, den Beschwerdeführer angemessen gegen rassistische Äußerungen zu schützen. Es habe auf die rassistischen Äußerungen von S. nicht effektiv reagiert und sie nicht angemessen bekämpft.

3.1 Zulässigkeit (Rz. 11.1 ff.).

Der Ausschuss hält die Beschwerde für zulässig, da nach Artikel 14 Absatz 1 ICERD auch Gruppen von Individuen Beschwerdeberechtigung und Opfereigenschaft besitzen können. Der TBB erfülle diese Voraussetzungen. Der Ausschuss betont, dass der TBB als Dachverband nach seiner Satzung, seinen Zielen und Aktivitäten auch die Interessen der Menschen türkischer Herkunft vertrete und im Raum Berlin und Brandenburg die Bekämpfung von Diskriminierung fördere. Der TBB habe ausreichend dargelegt, dass er durch die E-Mails von den Aussagen von Herrn S. direkt betroffen sei. Ihm sei unter Berufung auf S. mitgeteilt worden, dass sich Menschen türkischer Herkunft und Musliminnen und Muslime allgemein nicht integrieren ließen und dass der Verband den Vorrang der Meinungsfreiheit akzeptieren müsse. Ferner sei der TBB von der Polizei benachrichtigt worden, dass er als Feind Deutschlands auf einer Liste des "Nationalsozialistischen Untergrunds" aufgeführt worden sei.

Der Ausschuss nimmt zur Frage der Rechtswegerschöpfung keine Stellung.

3.2 Begründetheit (Rz. 12.1 ff.)

Verletzung der Pflicht, Privatpersonen durch effektive Ermittlungen gegen rassistische Äußerungen zu schützen (Rz. 12.2 ff.)
Der Ausschuss stellt eine Verletzung des Übereinkommens fest, da Deutschland seine Pflicht verletzt habe, effektive Maßnahmen gegen die rassistisch diskriminierenden Äußerungen von S. zu ergreifen.

Der Ausschuss kommt zu dem Ergebnis, dass die Behörden die Äußerungen von S. nicht  effektiv untersucht hätten und stellt fest, dass die Ermittlungen unter § 130 und § 185 StGB für einen effektiven Schutz nicht ausreichend gewesen sind.

Er betont zunächst, dass es unter Artikel 4 ICERD nicht ausreiche, rassistische Handlungen nur auf dem Papier unter Strafe zu stellen. Gerichte und staatliche Einrichtungen müssten Strafgesetze und andere Vorschriften, die rassistische Diskriminierung verbieten, effektiv umsetzen ("Gelle gegen Dänemark", Mitteilung Nr. 34/2004). Dies ergebe sich stillschweigend aus dem Übereinkommen. Danach sei der Staat verpflichtet, unmittelbare Maßnahmen zur Bekämpfung von Rassismus zu treffen (Artikel 4 ICERD), bestehende rassistische Diskriminierung zu verbieten und zu beenden (Artikel 2 Absatz 1 ICERD) und wirksamen Schutz sowie Rechtsbehelfe gegen alle rassistischen Handlungen zu bieten (Artikel 6 ICERD; Rz. 12.3).

Prüfungsumfang (Rz. 12.5)
Der Ausschuss erläutert seinen begrenzten Kontrollumfang. Demnach prüfe er,  

  1. ob es sich bei den Äußerungen um rassistisches Gedankengut im Sinne des Artikels 4 ICERD handelt,
  2. ob die Äußerungen durch die Meinungsfreiheit gerechtfertigt sind,
  3. ob die Entscheidung, S. nicht strafrechtlich zu verfolgen, offensichtlich willkürlich war beziehungsweise eine Rechtsverweigerung darstellte.
1. Schutzbereich des Artikels 4 Buchstabe a ICERD (Rz. 12.6)

Der Fachausschuss stellt fest, dass es sich bei den Äußerungen von S. über die türkischstämmige Bevölkerungsgruppe in Berlin um die Verbreitung rassistischen Gedankenguts handelt.

Anhand ausgewählter Aussagen stellt der Ausschuss den rassistischen Gehalt der Äußerungen von S. dar. Er weist unter anderem darauf hin, dass S. in Bezug auf diese Gruppe in negativer Weise von Produktivität, Intelligenz und Integration spreche, während er diese Eigenschaften bei anderen Gruppen von Migrantinnen und Migranten positiv bewerte. S. gehe von der Unterlegenheit der türkischstämmigen Bevölkerungsgruppe aus und benutze das Adjektiv "türkisch" im negativen Sinne, indem er von der Existenz "türkischer Probleme" in anderen Bevölkerungsteilen spreche.

Der Ausschuss kommt zu dem Ergebnis, dass die untersuchten Aussagen Vorstellungen rassischer Überlegenheit enthielten. Er begründet dies mit der Verweigerung von Respekt als Menschen und einer verallgemeinernden, negativen Darstellung der (vermeintlichen) Eigenschaften der türkischstämmigen Bevölkerung. Die Empfehlung eines allgemeinen Einwanderungsverbotes beziehungsweise einer Einwanderungsbeschränkung für bestimmte Gruppen und die Aufforderung, der türkischstämmigen Bevölkerung Sozialleistungen zu verwehren, erfülle die Voraussetzungen eines Aufrufs zu rassistischer Diskriminierung.

2. Rechtfertigung und offensichtlich willkürliche oder rechtsverweigernde Ablehnung der Strafverfolgung von S. (Rz. 12.7 ff.)

Der Ausschuss kommt zu dem Ergebnis, dass Deutschland zu Unrecht festgestellt habe, dass die Äußerungen von S. von der Meinungsfreiheit gedeckt sind. Deutschland habe damit seine Handlungspflicht aus Artikel 4 Buchstabe a ICERD verletzt. Die Ausübung der Meinungsfreiheit bringe besondere Aufgaben und Verantwortlichkeiten mit sich. Sie enthalte die Verpflichtung, kein rassistisches Gedankengut zu verbreiten (Allgemeine Empfehlung Nr. 15; "Saada Mohamad Adan gegen Dänemark", Mitteilung Nr. 43/2008). Artikel 4 ICERD verpflichte die Staaten, ihre Bevölkerung

  1. gegen Aufstachelung zum Rassenhass und
  2. gegen die Verbreitung von Gedankengut, das auf einem Gefühl rassischer Überlegenheit oder Rassenhass beruht,

zu schützen.

Die deutsche Staatsanwaltschaft sei zu einseitig von einer Rechtfertigung der Aussagen durch die Meinungsfreiheit ausgegangen. Die Äußerungen von S. stellten jedoch die Verbreitung rassistischen Gedankenguts (Variante 2) dar und enthielten Elemente der Aufstachelung zur Rassendiskriminierung (Variante 1). Die deutschen Behörden hätten nur die erste Variante geprüft und ausgeschlossen. Sie hätten sich dabei auf die Feststellung beschränkt, dass die Aussagen den öffentlichen Frieden nicht stören könnten. Damit hätten sie versäumt, effektiv zu untersuchen, ob die zweite Variante erfüllt sei.

Zudem stellt der Ausschuss fest, dass das für die deutschen Behörden entscheidende Kriterium der "Störung des öffentlichen Friedens" weder auf Artikel 2 Absatz 1 (d) noch auf Artikel 4 ICERD beruhe. Das deutsche Recht setze das Übereinkommen damit nicht angemessen um.

3.3 Empfehlungen (Rz. 14)

Der Fachausschuss empfiehlt Deutschland, seine Praxis und sein Verfahren bei der Strafverfolgung von Rassismusvorwürfen zu überprüfen. Er fordert die deutsche Regierung auf, die Entscheidung des Ausschusses zu verbreiten, besonders in Staatsanwaltschaft und Justiz.

3.4 Abweichende Meinung

Ausschussmitglied Vazquez hat eine abweichende Meinung abgegeben (CERD/C/82/3). Er geht nicht von einer Verletzung des ICERD aus. Seiner Auffassung nach ist die Einstellungsentscheidung weder willkürlich noch eine Rechtsverweigerung. Es liege weder eine Aufstachelung zur Diskriminierung noch die Verbreitung von auf rassischer Überlegenheit beruhenden Überzeugungen vor. S. habe nicht von Minderwertigkeit gesprochen - zumindest sei es nicht willkürlich vonseiten des Staates, seine Äußerungen so zu verstehen. Staaten dürften sich entscheiden, dass es zweckdienlicher sei, eine Äußerung nicht zu verfolgen. Schließlich widerspreche § 130 StGB nicht dem ICERD; Deutschland habe also legitimerweise befinden können, dass Strafverfolgung nur bei Gefährdung des öffentlichen Friedens erforderlich sei.

4. Bedeutung für die Rechtspraxis

Der Fachausschuss bestätigt hier, dass die Äußerungen Sarrazins rassistisch sind. Er fordert Deutschland erneut auf, ein breiteres Verständnis von Rassismus anzunehmen, und zeigt auf, dass Rassismus jenseits von Rechtsextremismus auch in der "Mitte" Deutschlands verbreitet ist. Dieses klare Urteil löst in der deutschen Öffentlichkeit wie in den Behörden noch immer Unverständnis aus.

Die Entscheidung zeigt, dass die deutschen Gesetze zumindest in ihrer Anwendung oft keinen ausreichenden Schutz gegen rassistische Äußerungen gewährleisten. Rechtsanwenderinnen und Rechtsanwender können die Argumente des Ausschusses unmittelbar in ihren Verfahren verwenden und sich vor deutschen Behörden und Gerichten in Zivil- und Strafverfahren auf die Entscheidung berufen. Werden etwa Ermittlungen wegen rassistischer Äußerungen (§§ 130, 185 ff. BGB) unter Berufung auf die Meinungsfreiheit endgültig eingestellt, bietet es sich nunmehr an, sich an internationale Spruchkörper zu wenden, wenn ein zu enger Rassismusbegriff angewendet oder der Meinungsfreiheit ein unangemessen großer Raum eingeräumt worden ist.

5. Follow Up (Stand: November 2013)

Die Bundesregierung hat im Juli 2013 in einer Verbalnote an den Ausschuss geäußert, dass sie die "deutsche Gesetzgebung zur Strafbarkeit rassistischer Äußerungen im Lichte der Äußerungen des Ausschusses" prüfe. Sie habe die Berliner Staatsanwaltschaft gebeten, "jede Möglichkeit zu prüfen, die Entscheidung zur Verfahrenseinstellung zu überdenken". Die Staatsanwaltschaft lehnte eine Woche später die Wiederaufnahme der Ermittlungen gegen S. ab.

Gesetzesänderungen sind bisher nicht erfolgt.

Zur Vertiefung:

Prof. Dr. Mehrdad Payandeh, "Die Entscheidung des UN-Ausschusses gegen Rassendiskriminierung im Fall Sarrazin", Juristenzeitung (JZ) 68, 980-990.
Prof. Dr. Dr. Christian Tomuschat, "Der "Fall Sarrazin" vor dem UN-Rassendiskriminierungsausschuss", Europäische Grundrechte Zeitschrift (EuGRZ) 2013, 262-265.

Entscheidung im Volltext:

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