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Abschiebung trotz Krankheit

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Erkrankte Menschen dürfen nicht abgeschoben werden, wenn dadurch ihr Leben gefährdet wird oder ihr Gesundheitszustand sich schwerwiegend zu verschlechtern droht. Wie wird diese menschenrechtliche Verpflichtung in Deutschland umgesetzt? Darüber sprechen wir mit Anna Suerhoff, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut und Autorin einer Studie zum Thema.

Frau Suerhoff, eine schwerwiegende Erkrankung begründet ein Abschiebungsverbot. Betroffene sind dabei in der Nachweispflicht und müssen eine sogenannte qualifizierte ärztliche Bescheinigung vorlegen. Welche Hürden stellen sich dabei?

Anna Suerhoff: Den Nachweis für ihre Erkrankung zu erbringen, bereitet den Betroffenen oft große Probleme. Ihr Zugang zu ärztlicher Versorgung, vor allem zu Fachärzt*innen, ist in der Regel eingeschränkt; so werden etwa Asylbewerber*innen in den ersten 18 Monaten nur in Akutfällen behandelt. Wenn sie sich in Abschiebehaft oder in entlegenen Unterkünften befinden, fehlt ihnen die Bewegungsfreiheit, um Termine bei Ärzt*innen oder Anwält*innen wahrzunehmen. Hinzu kommen Kosten von mehreren hundert Euro für ein eventuell benötigtes Gutachten und die Schwierigkeiten der sprachlichen Verständigung. Gerade in den letzten Jahren wurden die Anforderungen an den Nachweis einer relevanten Erkrankung enorm hochgeschraubt. Selbst aus der stationären Behandlung finden Abschiebungen statt, ungeachtet der gesundheitlichen Folgen. Die zuständigen Behörden dürfen sich jedoch nicht allein auf die Mitwirkungspflichten der Betroffenen berufen, sondern müssen Anhaltspunkten für eine schwere oder gar lebensbedrohliche Krankheit von sich aus nachgehen. Denn der Staat hat eine Aufklärungspflicht und kann die Verantwortung nicht einfach verlagern.

Vor der Abschiebung einer schwerkranken Person müssen die Behörden prüfen, ob in deren Herkunftsland die notwendige medizinische Versorgung vorhanden ist – und ob sie erreichbar und finanzierbar ist. Wie gehen die Behörden vor, um Antworten auf diese Fragen zu erhalten?

Suerhoff: Die Behörden nutzen vor allem die Lageberichte des Auswärtigen Amtes sowie allgemeine Informationen zum Gesundheitssystem, um die Situation im Herkunftsland zu beurteilen. Dies sind jedoch Daten, die wenig darüber aussagen, ob im Einzelfall die Behandlung einer bestimmten Krankheit in einem Land tatsächlich möglich ist. Zudem sind viele Länder, in die abgeschoben wird, Krisen- oder Kriegsgebiete, in denen die Verhältnisse alles andere als stabil und die Lebensbedingungen regional oft sehr unterschiedlich sind. Im Einzelfall werden die Fragen konkreter: Gibt es in einer bestimmten Region die benötigte medizinische Versorgung? Sind sichere Verkehrsverbindungen dorthin vorhanden? Können Familienmitglieder oder Hilfsorganisationen Unterstützung anbieten? Reichen die finanziellen Mittel aus? Ob all dies gegeben ist, müssen die Behörden prüfen und dafür, falls erforderlich, auch vor Ort Erkundigungen einholen.

Im Februar 2021 hat das Bundesverfassungsgericht in einer Entscheidung zu Abschiebung nach Afghanistan explizit betont, dass vor einer Abschiebung auch die coronabedingten Auswirkungen auf das Gesundheitssystem und die Lebensbedingungen im Herkunftsland genau geprüft werden müssen. Der Zugang zu Behandlung im Herkunftsland muss effektiv gewährleistet sein, pauschal auf das Gesundheitssystem zu verweisen, reicht nicht aus.

Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts ist ein wichtiger Appell an die zuständigen Behörden und Gerichte, vor einer Abschiebung die aktuelle Situation im Herkunftsland sorgfältig zu untersuchen. Gerade in einem Land wie Afghanistan, wo Gewalt zum Alltag gehört, ist die Lage fragil und ändert sich ständig. Daher müssen tagesaktuelle Entwicklungen sehr genau im Blick behalten werden. Im Zweifel sollten meiner Ansicht nach Abschiebungen in bestimmte Gebiete daher zunächst ausgesetzt werden, bis Klarheit über die tatsächliche Lage vor Ort herrscht.

Aus Ihrer Studie wird deutlich, dass die Datenlage für alle Bereiche, die Sie untersucht haben, schlecht ist. Wo liegen dabei die Probleme?

Suerhoff: In vielen Bereichen des Asyl- und Aufenthaltsrechts ist die Datenlage lückenhaft. Viele gesetzliche Verschärfungen der letzten Jahre wurden damit begründet, dass Asylsuchende oder Ausreisepflichtige bewusst Tatsachen vortäuschen oder verschleiern würden, um Vorteile im Verfahren oder eine Verhinderung der Abschiebung zu erreichen. Belastbare, öffentlich zugängliche Daten, die diese Annahme stützen, liegen nicht vor. Eine bessere Datenlage könnte zudem die Evaluierung bestehender Regelungen erleichtern, das heißt, zu schauen, welche Auswirkungen insbesondere die Verschärfungen auf die Rechte der Betroffenen haben und ob diese Regelungen tatsächlich ihren gesetzlichen Zweck erfüllen. Datenerhebungen können auch dazu beitragen, strukturelle Defizite und Missstände sichtbar zu machen. Derzeit passiert es regelmäßig, dass Rechtsverletzungen und Schutzlücken von den zuständigen staatlichen Stellen als bedauerliche Einzelfälle eingestuft und keine grundlegenden Konsequenzen daraus gezogen werden.

Welche Konsequenzen wären das?

Suerhoff: Meiner Meinung nach sollte man insgesamt wegkommen von dieser lauten Abschiebungsrethorik und den Blick wieder auf die Menschen richten, um die es geht. Letztlich steht für sie sehr viel auf dem Spiel. Genau hinzuschauen, bevor jemand abgeschoben wird, ist mühsam und zeitaufwendig, braucht vielleicht auch mehr Personal in den zuständigen Behörden, aber es ist eine rechtliche und moralische Verpflichtung. Werden Abschiebungen aufgrund des politischen Drucks voreilig und ohne genaue Prüfung der Umstände im Zielstaat und der individuellen Situation der Betroffenen durchgesetzt, kann das zu schweren Menschenrechtsverletzungen führen. Im schlimmsten Fall wird dann eine schwere Gesundheits- oder gar Lebensgefahr durch die Abschiebung in Kauf genommen.

(H. Gläser, Juni 2021)

Ansprechpartner*in

© DIMR/B. Dietl

Anna Suerhoff

Wissenschaftliche Mitarbeiterin
(abwesend bis April 2025)

Telefon: 030 259 359 - 487

E-Mail: suerhoff(at)institut-fuer-menschenrechte.de

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