Die Bedeutung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Sie ist eine verbindliche Richtschnur für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen. Seit dem Jahr 2009 gilt die Konvention auch in Deutschland. Wie gehen Gerichte als Schlüsselinstanzen mit den Bestimmungen aus der Konvention um? Ein Interview mit dem Präsidenten des Bundessozialgerichtes, Peter Masuch, und Valentin Aichele, dem Leiter der Monitoring-Stelle zur UN-Behindertenrechtskonvention.
Das Inkrafttreten der UN-BRK war ein großer Schritt für die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Warum?
Peter Masuch: Die Konvention ist verbindliches Recht geworden. Sie muss bei der Auslegung der Grundrechte ebenso beachtet werden wie bei konkreten Rechtsansprüchen, etwa im Sozialrecht.
Valentin Aichele: Die Konvention stellt klar, dass Behinderung ein menschenrechtliches Thema ist und der Staat besonderen Verpflichtungen unterliegt.
Die Umsetzung der UN-BRK ist mit ihrem Inkrafttreten im Jahr 2009 nicht abgeschlossen. Welche Schwierigkeiten sehen Sie?
Aichele: Es gibt immer noch große Hürden für Menschen mit Behinderungen, ihre Rechte praktisch - wie andere - in Anspruch zu nehmen. Die Bilanz der Umsetzung ist bis heute sehr gemischt. Gerade dann kommt den Gerichten für die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention eine wichtige Rolle zu. Vor Gericht allerdings stellen sich ganz eigene Schwierigkeiten.
Herr Masuch, vor welche Herausforderungen stellt die UN-BRK die Gerichte? Sehen Sie es auch so, dass es immer noch schwer ist für Menschen mit Behinderungen, ihre Rechte durchzusetzen?
Masuch: Recht haben ist das eine, Recht bekommen das andere. Die deutsche Gerichtsbarkeit muss in Bezug auf jede Lebenslage von behinderten Menschen noch klären, ob die Konvention einklagbare Rechte hergibt.
Aichele: Wir von der Monitoring-Stelle beobachten die gerichtliche Praxis regelmäßig. Erfreulich ist, dass sich die deutschen Gerichte mit der UN-BRK weitaus häufiger als mit anderen UN-Menschenrechtsverträgen befassen - wenngleich es immer noch überschaubare Fallzahlen sind. Gerade das Bundessozialgericht zeigt sich sehr aufgeschlossen und setzt positive Impulse. Im Allgemeinen jedoch ist die Tendenz erkennbar, dass Gerichte, insbesondere die Verwaltungsgerichte, immer wieder Schwierigkeiten haben, die Konvention rechtlich richtig einzuordnen.
Können Sie konkreter werden?
Aichele: Es scheint den Gerichten besonders schwer zu fallen, den Rang und den Inhalt der Rechte zu bestimmen und diese in ihre Entscheidungsfindung angemessen mit aufzunehmen. Die Verschränkung mit anderen Menschenrechtsverträgen und die wesentlichen Rechtserkenntnisquellen, also beispielsweise die Allgemeinen Bemerkungen der menschenrechtlichen UN-Fachausschüsse, sind häufig völlig unbekannt. Das gilt auch für Behörden. So kam es in der Vergangenheit zu einer Reihe von problematischen Entscheidungen, die wiederum von anderen Gerichten unreflektiert aufgegriffen werden und im Ergebnis die Konvention und die Rechte von Menschen mit Behinderungen schwächen.
Können Sie dafür ein Beispiel nennen?
Aichele: Im Bildungsbereich haben wir folgendes Beispiel: Eine Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs Hessen aus dem Jahre 2009 negiert den Rechtsanspruch von Menschen mit Behinderungen auf inklusive Bildung und den damit verbundenen Anspruch auf konkrete Anpassungen und Veränderungsleistungen bestehender Strukturen im Einzelfall. Eine solche Entscheidung ist für den Ausbau eines inklusiven Bildungssystems nicht förderlich. Nach unserer Auffassung jedenfalls ist das Recht auf inklusive Bildung in Teilen gerichtlich einklagbar.
Herr Masuch, welche Fälle erreichen die Sozialgerichte?
Masuch: Inzwischen beziehen sich die Gerichte in zahlreichen Fällen auf die UN-BRK. Ich nenne zwei aktuelle Beispiele: Artikel 16 Absatz 4 der UN-BRK verlangt geeignete Maßnahmen für Gewaltopfer. Der für das Soziale Entschädigungsrecht zuständige Senat des Bundessozialgerichts hat diese Norm als Auslegungshilfe zur Bestimmung des Einkommensbegriffs im Asylbewerberleistungsgesetz herangezogen mit der Folge, dass die Beschädigtengrundrente nach dem deutschen Opferentschädigungsgesetz nicht zum Einkommen im Sinne des Paragrafen 7 Asylbewerberleistungsgesetz gehört. Sie ist demnach nicht vor Eintritt von Leistungen nach diesem Gesetz aufzubrauchen. Ein weiteres Beispiel: Das Landessozialgericht Baden-Württemberg fordert etwa bei der Ermessensentscheidung über Anschaffung und behindertengerechten Umbau eines PKW die Beachtung des Rechts auf persönliche Mobilität nach Artikel 20 der UN-BRK.
Welche Bedeutung hat die UN-BRK in der Praxis der Sozialgerichtsbarkeit?
Masuch: Die Konvention betrifft alle Lebensbereiche von Menschen mit Behinderungen. Dies hat zur Folge, dass sich die Wirkungen der UN-BRK auch in alle Fachgebiete des Sozialrechts erstrecken. Dazu gehören Ansprüche auf Krankenbehandlung ebenso wie etwa solche auf medizinische oder berufliche Rehabilitation. Das Recht behinderter Menschen auf angemessenen Unterhalt hat in der UN-BRK große Bedeutung. Die Frage ist nun: Was folgt daraus für die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung?
Die UN-BRK verbrieft Menschenrechte, hat aber den Rang eines Bundesgesetzes. In welchen Fällen muss auf die Konvention zurückgegriffen werden?
Aichele: Ich würde sagen: „Wenn es drauf ankommt.“ Das gilt für die Fälle, in denen die menschenrechtliche Forderung ohne den Rückgriff auf die Konvention nicht hinreichend gewährleistet werden kann. Die Konvention kann, seitdem sie in Deutschland in Kraft gesetzt ist, grundsätzlich in der ganzen Breite ihrer Bestimmungen angewendet werden. Die Konvention ist höherrangiger Maßstab für die Auslegung des Rechts und einzelne Bestimmungen können überdies auch Grundlage für Entscheidungen sein. Das wird nicht immer hinreichend erkannt. Hinderlich ist insbesondere die in der Verwaltungsgerichtsbarkeit noch verbreitete Auffassung, dass es selbst nach der Ratifikation im Jahr 2009 zusätzlich noch ein sogenanntes Umsetzungs- oder Transformationsgesetz bräuchte. Das ist nicht richtig, denn es braucht keinen weiteren Schritt mehr, um die Konvention anwenden zu können.
Herr Masuch, teilen Sie diese Einschätzung und wenn ja, in welchen Fällen „kommt es darauf an“, als Gericht auf die Konvention zurückzugreifen?
Masuch: Ich teile die Auffassung von Herrn Dr. Aichele. Mit der Ratifikation ist die UN-BRK in das deutsche Recht überführt worden. Eine zwingende Folge dessen ist allerdings auch, dass die Gesetzgeber auf Bundes- und Landesebene verpflichtet wurden, alle geeigneten Gesetzgebungsmaßnahmen zur Umsetzung der in diesem Übereinkommen anerkannten Rechte zu treffen - nach Artikel 4 Absatz 1 Satz 2 Buchstabe a der UN-BRK. Rechtlich gesehen ist die UN-BRK ein erster Schritt auf einer längeren Reise. Die Gerichte, die an Recht und Gesetz gebunden sind, haben die Regelungen der UN-BRK immer dann zu beachten und mithin umzusetzen, wenn sie über Lebenslagen von Menschen mit körperlichen, seelischen, geistigen oder Sinnes-Beeinträchtigungen zu entscheiden haben.
Wie kann die UN-BRK künftig eine höhere Bedeutung in der Behörden- und Gerichtspraxis erlangen?
Masuch: Ich nenne Ihnen ein konkretes Beispiel. Das Bundessozialgericht hat sich einen eigenen Aktionsplan zur Umsetzung der UN-BRK gegeben und zielt damit darauf ab, das Bewusstsein für Menschen mit Behinderungen zu schärfen und die Achtung ihrer Rechte und ihrer Würde zu fördern. Ich sehe also in diesem Aktionsplan eine Maßnahme, um die Aufgeschlossenheit gegenüber den Rechten von Menschen mit Behinderung zu erhöhen. Dies gilt allen Menschen gegenüber, wir müssen auch die Richterinnen und Richter immer wieder sensibilisieren.
Aichele: Wichtig sind mehr regelmäßige Fortbildungsangebote für die Fachleute aus der Verwaltung und der Gerichtsbarkeit. Diese Programme können spezifisch auf die UN-Behindertenrechtskonvention zugeschnitten sein; die UN-BRK kann auch im Rahmen allgemeiner Kurse abgehandelt werden. Hilfreich sind auch Handreichungen und Auslegungshilfen. Außerdem müssen Verwaltungsvorschriften und Verfügungen Behördenmitarbeiterinnen und -mitarbeitern eine Orientierung bieten, wie sie in bestimmten Fällen entscheiden müssen, damit gewährleistet wird, dass das Recht von Menschen mit Behinderungen entsprechend Beachtung findet.
(A. Viohl)