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„Partizipation auf Augenhöhe, nicht nur am Katzentisch“

© Anna Spindelndreier

In einer Demokratie sollte jede*r die Möglichkeit haben, sich politisch einzubringen. Menschen mit Behinderungen können dies jedoch nur eingeschränkt tun, da häufig keine inklusiven Beteiligungsformate zur Verfügung stehen. Das sollte sich dringend ändern, denn mehr Beteiligung führt in der Regel zu besserer Politik.

Sitzungsunterlagen in einer Sprache, die sie nicht verstehen, fehlende Gebärdensprachdolmetschung bei politischen Treffen oder zu kurze Beteiligungsfristen: Menschen mit Behinderungen treffen auf zahlreiche Barrieren, wenn sie sich politisch einbringen wollen. Inklusive Beteiligungsformate stehen in der Regel nur im Bereich der Behindertenpolitik zur Verfügung. Dabei haben Menschen mit Behinderungen das Recht, sich auch in anderen Politikfeldern zu beteiligen. Dazu hat sich Deutschland 2009 mit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) verpflichtet.

Auch wenn es in den letzten Jahren einige Gesetzesvorhaben gab, bei denen Menschen mit Behinderungen aktiv beteiligt wurden, werden sie in der Regel erst dann um ihre Einschätzung gebeten, wenn die politischen Entscheidungen bereits gefällt sind. Partizipation auf Augenhöhe findet nur selten statt. Oder um es mit den Worten einer behindertenpolitisch aktiven Person aus Berlin zu sagen: „Es ist immer der Katzentisch. Und immer erst, wenn etwas schon fertig ist!" Für seinen Anfang Dezember veröffentlichten Bericht „Politische Partizipation von Menschen mit Behinderungen in Berlin“ befragte das Institut Selbstvertreter*innen, Verwaltungsmitarbeitende und Berliner Beauftragte für Menschen mit Behinderungen. Die Erkenntnisse aus dem Bericht stehen stellvertretend für die Situation vielerorts in Deutschland.

„Wir brauchen einen Bewusstseinswandel, damit allen klar wird, dass politische Partizipation keine optionale Leistung ist, sondern eine staatliche Verpflichtung aus der UN-Behindertenrechtskonvention.“

„Nichts über uns ohne uns!“

Menschen mit Behinderungen sind Expert*innen in eigener Sache und können am besten beurteilen, wie man zu sinnvollen und umsetzbaren Lösungen kommt, ohne weitere Barrieren zu schaffen. „Nichts über uns ohne uns!" lautet der Grundsatz der Behindertenrechtsbewegung, der auch Eingang in die UN-BRK gefunden hat. Dies gilt für alle Politikbereiche, die Menschen mit Behinderungen direkt betreffen, etwa die Sozialgesetzgebung. Es gilt aber auch für Bereiche, die sie auf den ersten Blick nur indirekt betreffen, etwa die Verkehrsplanung oder die Pandemiebekämpfung. „Menschen mit Behinderungen dürfen nicht auf die Rolle als ‚Expert*in in eigener Sache‘ reduziert und lediglich an so genannten behindertenpolitischen Entscheidungen beteiligt werden“, fordert deshalb Leander Palleit, Leiter der Monitoring-Stelle UN-Behindertenrechtskonvention des Instituts. „Nur wenn ihre Expertise auch in anderen Politikfeldern von Anfang an gehört und berücksichtigt wird, können wirksame Maßnahmen geplant und echte Fortschritte bei der Umsetzung der UN-BRK erzielt werden. Dass die Beteiligung von lebensentscheidender Bedeutung sein kann, hat die Pandemie-Politik deutlich gemacht.“

Zu Beginn der Pandemie wurden beispielsweise Menschen mit Behinderungen, die ihr Leben mithilfe von Assistent*innen selbst organisieren, vollkommen vergessen. „Wir haben keine Masken oder Schutzausrüstungen bekommen. Als es mit den Tests los ging, hat man uns wieder vergessen“, berichtet Nancy Poser, Behindertenrechtsaktivistin von Ability Watch. Auch beim Start der Impfaktionen hätten Menschen mit Behinderungen, die ambulant leben, sowie ihre Assistent*innen keinen prioritären Zugang zu Impfungen gehabt, obwohl sie Teil der Risikogruppe waren.

Partizipation braucht Barrierefreiheit

„Bund, Länder und Kommunen sollten Beteiligungsprozesse barrierefreier als bislang gestalten“, findet Palleit. Dabei sollten sie sich an den Vorgaben des UN-Ausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderungen orientieren. Dieser hat beispielsweise gefordert, Beteiligungsprozesse von Anfang an transparent zu machen.

Um Beteiligung zu ermöglichen, müssen die verschiedenen Bedarfe der politisch Aktiven berücksichtigt werden: Das kann Gebärdensprachdolmetschung sein, ein rollstuhlgerechter Zugang oder eine Übersetzung in Leichte Sprache. „Ich bin froh, dass mich mein Assistent bei den Sitzungen unterstützt und mir ab und zu mal ins Ohr flüstert,“ so eine Person mit intellektueller Beeinträchtigung aus Berlin, für die die komplexen Inhalte von Behindertenbeiratssitzungen schwer verständlich sind.

Es müssen vor allem auch die Rahmenbedingungen geschaffen werden, die es allen Selbstvertreter*innen ermöglichen, sich zu beteiligen. „Ich habe viele Expert*innen in eigener Sache getroffen, die darüber hinaus wahre Vertretungen für viele Menschen mit Behinderungen waren. Es gilt, die Menschen mit Behinderungen zu finden, die sich der Aufgabenstellung gewachsen fühlen. Eine Aufwandsentschädigung muss selbstverständlich werden“, fordert etwa einer der befragten Berliner Bezirksbeauftragten. Neben einer Aufwandsentschädigung für die Teilnahme an Beteiligungsprozessen sind auch realistische Fristen für ehrenamtliche Tätige wichtig.

Artikel 4 Absatz 3 UN-BRK

„Bei der Ausarbeitung und Umsetzung von Rechtsvorschriften und politischen Konzepten zur Durchführung dieses Übereinkommens und bei anderen Entscheidungsprozessen in Fragen, die Menschen mit Behinderungen betreffen, führen die Vertragsstaaten mit den Menschen mit Behinderungen, einschließlich Kindern mit Behinderungen, über die sie repräsentierenden Organisationen enge Konsultationen und beziehen sie aktiv ein.“

Bewusstseinswandel notwendig

„Wir brauchen einen Bewusstseinswandel, damit allen klar wird, dass politische Partizipation keine optionale Leistung ist, sondern eine staatliche Verpflichtung aus der UN-Behindertenrechtskonvention“, bekräftigt Judith Striek, Institutsmitarbeiterin und Autorin des erwähnten Berichts zur Situation in Berlin. Die Politik müsse die Voraussetzung für gelingende Partizipation schaffen und personelle wie finanzielle Ressourcen zur Verfügung stellen. „Es muss klare Vorgaben geben, wann und wie Menschen mit Behinderungen bei politischen Entscheidungen einbezogen werden müssen – und Leitlinien, wie das konkret umgesetzt werden kann“, so Striek weiter. Die Organisationen von Menschen mit Behinderungen müssten schon zu Beginn des Verfahrens konsultiert werden, um sinnvolle Fristen und barrierefreie Informationswege zu verabreden. Außerdem solle darauf geachtet werden, wer sich beteiligen könne, und wer noch nicht. „Insbesondere Kinder oder Geflüchtete mit Behinderungen sind in Deutschland von Partizipation an vielen Stellen weiterhin ausgeschlossen“, konstatiert Striek.

Publikationen zu diesem Thema

Ansprechpartner*in

Frieder Kurbjeweit

Wissenschaftlicher Mitarbeiter

Telefon: 030 259 359 - 442

E-Mail: kurbjeweit(at)institut-fuer-menschenrechte.de

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