Menschenhandel in Deutschland: Wie Daten die Rechte Betroffener stärken können
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Meldung
Menschenhandel ist eine schwere Straftat und ein schwerwiegender Verstoß gegen die Menschenrechte. Doch wie und in welchem Ausmaß findet Menschenhandel in Deutschland statt und wie ist die Lage der Betroffenen? Naile Tanış und Charlotte Felbinger von der Berichterstattungsstelle Menschenhandel des Instituts erläutern, was der Blick auf die aktuelle Datenlage verrät.
Naile Tanış: Mit dem Bericht gibt es jetzt zum ersten Mal eine umfassende und systematische Bestandsaufnahme von Daten in Deutschland zu Menschenhandel insgesamt und insbesondere zur Situation der Betroffenen und der Durchsetzung ihrer Rechte. Unsere Untersuchung zeigt: Es werden bereits viele relevante Daten erhoben, beispielsweise in Kriminalstatistiken, aber auch im Rahmen von Verwaltungsvorgängen in Behörden. Einige Statistiken werden auch regelmäßig veröffentlicht, etwa das jährliche Bundeslagebild Menschenhandel und Ausbeutung des Bundeskriminalamts, das Angaben zur Zahl der Ermittlungsverfahren macht. Auch liefert zum Beispiel das Ausländerzentralregister Hinweise, wie viele Betroffene von Menschenhandel einen Aufenthaltstitel erhalten haben. Eine wichtige Quelle ist außerdem die Datenerhebung des Bundesweiten Koordinierungskreis gegen Menschenhandel, dem KOK, der seit 2021 jährlich Statistiken zu Beratungsfällen von Mitgliedsorganisationen in einem Datenbericht veröffentlicht.
Das Bundeskriminalamt hat Mitte September das Bundeslagebild zu Menschenhandel und Ausbeutung für das Jahr 2022 veröffentlicht. Demnach gibt es einen Anstieg von abgeschlossenen Verfahren im Bereich der sexuellen Ausbeutung um fast 20 Prozent. Kann man sagen, dass Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung in Deutschland deutlich zugenommen hat?
Tanış: Vorweg zur Einordnung: Das Bundeslagebild stellt die Arbeit der Ermittlungsbehörden dar. Es ist richtig, dass im Bereich der sexuellen Ausbeutung die Verfahrenszahlen deutlich gestiegen sind. Dies ist laut Lagebild unter anderem auf den Abschluss größerer Ermittlungskomplexe zurückführen. Die Anzahl der Verfahren, bei denen die Anzeigen nicht durch die Betroffenen selbst erfolgte, stieg im Berichtszeitraum um etwas mehr als die Hälfte an. Konkret: 2021 gab es 137 Verfahren, 2022 waren es 209. Das legt laut Bundeslagebild den Schluss nahe, dass proaktive polizeiliche Maßnahmen im Bereich der sexuellen Ausbeutung zugenommen haben und es deshalb 2022 mehr Ermittlungsverfahren wegen Verdachts der sexuellen Ausbeutung gab. Die Zahlen bilden also nicht unbedingt ab, wie viel sexuelle Ausbeutung tatsächlich stattfindet. Für ein vollständigeres Bild müssen beispielsweise auch die Zahlen der spezialisierten Fachberatungsstellen in den Blick genommen werden. Genau das ist unsere Aufgabe als Berichterstattungsstelle Menschenhandel.
In welchen Bereichen gibt es derzeit keine verlässlichen Zahlen?
Charlotte Felbinger: Bei unserer Sichtung der Datenlage haben wir festgestellt, dass es insbesondere in den Bereichen Entschädigung, Rechtschutz sowie Kinder- und Jugendhilfe an Daten fehlt. Die Europaratskonvention gegen Menschenhandel räumt Betroffenen beispielsweise ein Recht auf Entschädigung durch den Staat und die Täter*innen ein. Aktuell liegen von staatlicher Seite jedoch keine bundesweiten Statistiken dazu vor, in wie vielen Fällen Betroffene von Menschenhandel in Deutschland tatsächlich eine Entschädigung erhalten. Hinweise auf die Durchsetzung von Entschädigungsansprüchen geben derzeit nur die Daten des KOK.
Die Konvention verpflichtet Deutschland außerdem, Betroffenen im Strafverfahren einen Rechtsschutz zu gewährleisten. Das bedeutet unter anderem, dass die Betroffenen Prozesskostenhilfe und eine Nebenklagevertretung erhalten. Daten zur Unterstützung im Ermittlungs- und Strafverfahren werden teilweise durch den KOK erhoben. Anhand offizieller Justizstatistiken sind aber auch hier keine spezifischen Aussagen möglich, ob diese Unterstützung für Betroffene von Menschenhandel gewährleistet ist.
Auch für den Bereich der Kinder- und Jugendhilfe bestehen erhebliche Wissenslücken. Zwar veröffentlich das Statistische Bundesamt jährlich eine Kinder- und Jugendhilfestatistik. Die Kategorien Menschenhandel und Ausbeutung tauchen so jedoch nicht in den Statistiken auf. Wie häufig entsprechende Verdachtsfälle von den Institutionen der Kinder- und Jugendhilfe festgestellt werden, wissen wir also derzeit nicht. Auch über die besonders schutzbedürftige Gruppe der unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten wissen wir zu wenig. Zum Verschwinden unbegleiteter minderjähriger Geflüchteter erhebt das BKA zwar Zahlen. Diese Zahlen sind aber wenig belastbar.
Warum sind die Daten so wichtig, zur Bekämpfung von Menschenhandel und zum Schutz der Betroffenen?
Tanış: Um die Betroffenen von Menschenhandel wirksam unterstützen zu können, braucht es Hilfeleistungen, die sich an ihren Bedürfnissen orientieren. Dazu müssen wir mehr darüber wissen, in welchem Umfang und wie Menschenhandel in Deutschland stattfindet, wie die Situation der Betroffenen ist und welche Unterstützungsangebote es gibt.
Felbinger: Unser Bericht macht deutlich, in welchen Bereichen wir dringend Daten erheben müssen. Gleichzeitig zeigt er auf, welche Informationen bereits jetzt genutzt werden können, um auf dieser Basis zielgenau Forderungen und Maßnahmen zu formulieren.
Zur Person
Naile Tanış ist Volljuristin und leitet seit 2023 die Berichterstattungsstelle Menschenhandel (zur Biografie).
Charlotte Felbinger ist Sozialwissenschaftlerin und seit 2021 wissenschaftliche Mitarbeiterin des Instituts. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung, Menschenhandel im Fluchtkontext und menschenrechtsbasierte Datenerhebung.
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