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Gewaltsames Verschwindenlassen von Migrant_innen

· Meldung

Barbara Lochbihler ist seit Juli 2019 Mitglied im UN-Ausschuss gegen das Verschwindenlassen. Die zehn Mitglieder dieses Gremiums überwachen die Einhaltung der UN-Konvention gegen das gewaltsame Verschwindenlassen. Anlässlich des Internationalen Tags der Opfer des Verschwindenlassens am 30. August haben wir mit Barbara Lochbihler über einen Schwerpunkt ihrer Arbeit im Ausschuss gesprochen.

Frau Lochbihler, die Covid-19-Pandemie hat die Ausschussarbeit deutlich beeinträchtigt. Wie arbeiten Sie und Ihre Kolleg_innen aktuell weiter daran, den Schutz von Menschen vor dem Verschwindenlassen zu verbessern?

Barbara Lochbihler: Die Arbeit ist zweifellos schwieriger ohne den persönlichen Austausch. Als erster UN-Vertragsausschuss überhaupt haben wir unsere Frühjahrssitzung am 4. Mai online und öffentlich eröffnet. Wir wollten damit insbesondere für die Opfer des Verschwindenlassens und ihre Angehörigen ein deutliches Zeichen setzen, dass unsere Arbeit trotz aller Einschränkungen weitergeht. Genauso wollten wir den Staaten signalisieren, dass wir sie weiter bei der Umsetzung der Konvention unterstützen, sie aber auch an ihre Verpflichtungen erinnern. Auch mit den sogenannten Eilaktionen befassen wir uns weiterhin, wir unterstützen also Familienangehörige oder Personen mit einem berechtigten Interesse bei der Suche nach einem verschwundenen Menschen.

Sie selbst beschäftigen sich besonders mit der Problematik des Verschwindenlassens im Kontext von Migration und Flucht. Warum?

Lochbihler: Schon als Europaabgeordnete habe ich mich viel mit der Situation von Geflüchteten und Migrant_innen weltweit und der europäischen Flüchtlingspolitik beschäftigt. Ich weiß um die Tausende Migrant_innen, die jedes Jahr auf dem Weg in ihr Zielland verschwinden; unter ihnen mutmaßlich viele Opfer von gewaltsamem Verschwindenlassen: Sie werden also von Staatsbediensteten oder mit deren Wissen ihrer Freiheit beraubt und ihr Aufenthaltsort wird verschleiert.

Die UN-Arbeitsgruppe gegen das Verschwindenlassen, mit der wir uns eng austauschen, hat 2017 in einem Bericht festgestellt, dass für Migrant_innen die Gefahr besonders hoch ist, Opfer von gewaltsamem Verschwindenlassen zu werden, und dass „Staaten und die internationale Gemeinschaft insgesamt dem Problem nicht genug Aufmerksamkeit widmen“. Die restriktive Migrationspolitik weltweit, der aggressive Diskurs gegen Migrant_innen, Geflüchtete und Asylsuchende, und der ihnen oft verwehrte Zugang zu Recht verstärken die Verletzlichkeit dieser Menschen und erhöhen damit indirekt die Gefahr, dass sie gewaltsam verschwinden.

Zivilgesellschaftliche Organisationen, in denen sich Opfer und Aktivist_innen zusammengeschlossen haben, berichten darüber, wie überaus schwierig es bei diesen grenzüberschreitenden Fällen für Familienangehörige ist, nach Verschwundenen zu suchen: Zuständigkeiten sind unklar, Staaten ziehen sich mit Verweis auf andere Staaten aus der Verantwortung, und mitunter ist gar nicht klar, in welchem Land die Person überhaupt verschwunden ist.

Sie haben das Deutsche Institut für Menschenrechte um eine Studie zu diesem Thema gebeten. Worum geht es in der Studie?

Lochbihler: Ziel der Studie ist es, auf die Problematik des Verschwindenlassens von Migrant_innen aufmerksam zu machen und die Verpflichtungen der Staaten zum Schutz von Migrant_innen vor dem gewaltsamen Verschwindenlassen auszubuchstabieren.

Migrant_innen sind häufig unter prekären Bedingungen, ohne rechtlichen Schutz und ohne die entsprechenden Sprachkenntnisse auf dem Weg in ihr Zielland. Als gewaltsam verschwunden im Sinne der Konvention gilt eine Person, wenn ihr die Freiheit entzogen wird durch Staatsbedienstete oder Personen, die mit der Erlaubnis, Unterstützung oder Duldung des Staates handeln, und wenn dann verschleiert wird, an welchem Ort und in welcher Situation sich die verschwundene Person befindet.

In der Studie geht es um Fälle von Verschwindenlassen, an denen Bedienstete/Beauftragte eines Staates auf dem Gebiet eines anderen Staates beteiligt sind, und um Fälle in Haftzentren für Migrant_innen. Welche Verpflichtungen genau haben dann Staaten, die der Konvention beigetreten sind? Wie müssen sie grenzübergreifend nach Verschwundenen suchen? Welche Rechte haben Familienangehörige von verschwundenen Migrant_innen gegenüber diesen Staaten? An wen können sie sich wenden und wo können sie das mutmaßliche Verschwindenlassen anzeigen, was gemäß Konvention ein wichtiges Recht ist? Wie verhält es sich, wenn das Verschwindenlassen durch nichtstaatliche Akteure, aber mit dem Wissen von staatlichen Bediensteten geschieht, etwa in Fällen von Menschenhandel?

All dies sind noch zu klärende wichtige juristische Fragen, die auch in politisches Handeln übersetzt werden müssen. Denn: Zwar sind längst nicht alle Staaten, die in solche Fälle involviert sind, der Konvention gegen das gewaltsame Verschwindenlassen beigetreten, aber auch der UN-Zivilpakt bietet Rechtsgarantien gegen das gewaltsame Verschwindenlassen und diesen haben 116 Staaten ratifiziert.

Können Sie Beispiele nennen für solche Fälle?

Lochbihler: Vor allem in Zentralamerika verschwinden in den letzten Jahren immer wieder Migrant_innen – und die wenigsten tun dies freiwillig. Wir wissen davon, weil dort eine besonders aktive Zivilgesellschaft Fälle dokumentiert und Betroffene unterstützt. Über Einzelfälle in Thailand und Kambodscha wurde vor Kurzem erst wieder in der Presse berichtet. In vielen afrikanischen Ländern ist das Problem auch im Kontext von Menschenhandel akut. Die zwangsweisen, teils gewaltsamen Zurückweisungen und Zurückschiebungen von Menschen vor allem an den EU-Außengrenzen sind in vielerlei Hinsicht höchst problematisch und zusätzlich mit dem Risiko verbunden, dass Menschen Opfer von gewaltsamem Verschwindenlassen werden. In den vielen Haftzentren, in denen weltweit Migrant_innen festgehalten werden, ist es nahezu unmöglich, ein gewaltsames Verschwindenlassen zu belegen.

Wie geht es weiter?

Lochbihler: Wir werden die Studie im Herbst veröffentlichen. Damit wollen wir Diskussionen anstoßen in der Fachöffentlichkeit und bei politisch Verantwortlichen. Auch im Ausschuss gegen das Verschwindenlassen und mit unseren Kolleg_innen in der UN-Arbeitsgruppe gegen das Verschwindenlassen werden wir das Thema weiter diskutieren und, wo nötig, in Empfehlungen an die Vertragsstaaten aufnehmen.

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