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Beschwerde-Nr. 38832/06

EGMR, Urteil vom 20.05.2010, Beschwerde-Nr. 38832/06, Kiss gegen Ungarn

1. Sachverhalt

Der Beschwerdeführer, Herr Kiss (K.), ist ein ungarischer Staatsangehöriger. Im Jahr 1991 wurden bei ihm manische Depressionen diagnostiziert. Im Mai 2005 wurde er wegen seiner psychischen Erkrankung teilweise unter Betreuung gestellt. Das zuständige Betreuungsgericht begründete dies damit, dass K., obwohl er sich im Alltag um sich selbst kümmern könne, sein Geld verschwende und gelegentlich aggressiv handele. Im Februar 2006 bemerkte K., dass er nicht in das Wählerverzeichnis für die anstehenden Parlamentswahlen eingetragen und ihm deshalb die Teilnahme an der Wahl nicht möglich war.

K. beschwerte sich über den Ausschluss von den Wahlen zunächst beim Wahlamt und dann beim zuständigen Gericht. Da nach der ungarischen Verfassung Personen, die unter Betreuung stehen, vom Wahlrecht ausgeschlossen sind, blieben seine Beschwerden erfolglos. Als ihm der ablehnende Gerichtsbeschluss am 25.04.2006 zugestellt wurde, hatten die Parlamentswahlen zwischenzeitlich bereits stattgefunden, ohne dass K. hätte daran teilnehmen können.

2. Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR)

Am 1.09.2006 legte K. seine Beschwerde dem EGMR vor. Er warf dem ungarischen Staat vor, ihm sein Wahlrecht widerrechtlich genommen zu haben. Er bestätigte zwar, dass er die Anordnung der Teilbetreuung an sich für notwendig hielt; die damit verbundene Folge - Ausschluss vom Wahlrecht - sei jedoch unvereinbar mit dem Artikel 3 (Recht auf freie Wahlen) des 1. Zusatzprotokolls zur Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK).

Darüber hinaus beschwerte er sich, dass er nicht gegen seinen Ausschluss von der Wahl rechtlich hätte vorgehen können, weil sich dieser direkt aus der Verfassung ergebe. Dies sei diskriminierend. In seiner Beschwerde stützte er sich neben Artikel 3 des 1. Zusatzprotokolls auch auf die Artikel 13 (Recht auf wirksame Beschwerde) und 14 EMRK (Diskriminierungsverbot).

Die ungarische Regierung entgegnete, dass das Recht auf freie Wahlen Beschränkungen unterliege. So seien etwa Minderjährige von der Wahl ausgeschlossen, da deren große Mehrheit die Bedeutung einer Wahlentscheidung nicht verstehen könne. Für psychisch erkrankte Menschen, die eine Betreuung benötigten, gelte dasselbe.

3. Entscheidung des EGMR

Der EGMR erklärte in seinem Urteil den Wahlrechtsausschluss als konventionswidrig und verwies dabei unter anderem auf die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK). In seiner Begründung berief sich der EGMR vor allem darauf, dass der Wahlrechtsausschluss nach der ungarischen Verfassung alle unter Betreuung stehenden Personen betreffe. Der Gerichtshof akzeptierte zwar, dass das Wahlrecht nicht absolut sei und Beschränkungen unterliegen könne. Die Staaten hätten einen gewissen Spielraum bei der Gestaltung des Wahlrechtssystems. Dieser Spielraum sei jedoch erheblich verringert, wenn eine Einschränkung der Grundrechte für eine besonders schutzbedürftige Gruppe der Gesellschaft gelte, die in der Vergangenheit bereits erhebliche Diskriminierung erlitten habe - wie im Fall geistig behinderter Menschen. Solche Gruppen seien in der Vergangenheit Vorurteilen ausgesetzt gewesen. Dies habe bleibende Folgen und führe zur sozialen Ausgrenzung dieser Gruppe. Deshalb müssten sehr gewichtige Gründe für eine Beschränkung ihrer Rechte vorliegen.

Indem nach ungarischem Recht eine Betreueranordnung automatisch zum Wahlrechtsausschluss führe, unabhängig von den tatsächlichen Fähigkeiten der Betroffenen zur Beteiligung an einer Wahl, handele es sich nach Ansicht des Gerichtshofs um einen pauschalen und diskriminierenden Ausschluss. Der EGMR kritisierte, dass nach dem ungarischen Recht keine individualisierte Beurteilung der Fähigkeit von geistig behinderten Personen, das Wahlrecht auszuüben, möglich sei.

4. Bedeutung der Entscheidung

Diese Entscheidung ist sehr wichtig auch aus der Sicht der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK). Zum einen besteht nach Artikel 12 UN-BRK die Verpflichtung, Menschen mit Behinderungen überall nicht nur als Rechtssubjekt anzuerkennen, sondern auch deren rechtliche Handlungsfähigkeit zu gewährleisten. Bekräftig wird diese Norm durch Artikel 29 UN-BRK. Danach verpflichten sich die Vertragsstaaten, Menschen mit Behinderungen die politischen Rechte und deren gleichberechtigte Ausübung zu garantieren. Dazu gehört die Verpflichtung sicherzustellen, dass Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen wirksam und umfassend am politischen und öffentlichen Leben teilhaben können. Dies schließt auch das Recht zu wählen ein.

Zum anderen sind diese beiden Garantien mit dem Diskriminierungsverbot (Artikel 5 UN-BRK) verknüpft. Danach verpflichten sich die Staaten anzuerkennen, dass "alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind, vom Gesetz gleich zu behandeln sind und ohne Diskriminierung Anspruch auf gleichen Schutz durch das Gesetz und gleiche Vorteile durch das Gesetz haben."

Entscheidung im Volltext:

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