Im Fokus

„Menschenrechtsschutz in existenzieller Gefahr“

Michael Windfuhr © A. Illing © DIMR/A. Illing

Die COVID-19-Pandemie erschwert die Arbeit der UN-Menschenrechtsgremien massiv. Warum das nur die Spitze des Eisbergs ist, erklärt Michael Windfuhr, selbst Mitglied im UN-Sozialpaktausschuss, im Interview.

Herr Windfuhr, welche Bedeutung haben die UN-Vertragsausschüsse für den Schutz der Menschenrechte?

Michael Windfuhr: Anders als im UN-Menschenrechtsrat, der ein politisches Gremium mit Delegierten der Mitgliedsstaaten ist, sind in den 10 Vertragsausschüssen unabhängige Expert*innen vertreten. Sie prüfen, inwieweit die jeweiligen Staaten die menschenrechtlichen Verpflichtungen umsetzen, die sie mit der Ratifikation des jeweiligen Menschenrechtsabkommens eingegangen sind, und empfehlen bei Bedarf Verbesserungen. Menschen, die Opfer von Menschenrechtsverletzungen geworden sind, können sich unter bestimmten Voraussetzungen mit Beschwerden an die Ausschüsse wenden. Deren Entscheidungen haben schon in manchem Fall zu grundsätzlichen menschenrechtlichen Verbesserungen im entsprechenden Land geführt. Das gilt auch für die Interpretation und Weiterentwicklung der Menschenrechtsverträge durch die Ausschüsse.

Können die UN-Ausschüsse diese Aufgaben während der Covid 19-Pandemie erfüllen?

Windfuhr: An Staatendialoge oder gar Überprüfungsbesuche in Vertragsstaaten war zunächst nicht zu denken. Von Beginn der Pandemie bis Ende 2020 hat nur ein einziger UN-Ausschuss einen digitalen Dialog mit einem Staat durchgeführt. Erst mit den Frühjahrssitzungen 2021 haben auch andere Ausschüsse einige Staaten im Online-Format überprüft. Technische Schwierigkeiten, fehlende Übersetzungskapazitäten, instabile Internetverbindungen und mangelnde Planungssicherheit erschwerten die Arbeitssitzungen. Angesichts von Mitgliedern aus der ganzen Welt mussten für gemeinsame Online-Sitzungen bis zu 15 Zeitzonen überbrückt werden. Die Zusammenarbeit zwischen Expert*innen mit verschiedenen fachlichen und regionalen Hintergründen wurde auch durch die fehlenden Möglichkeiten zum informellen Austausch am Rande persönlicher Treffen beeinträchtigt. Trotz dieser Widrigkeiten haben die Ausschüsse ihre Arbeit so gut es ging weitergeführt.

„Die chronische Unterfinanzierung des UN-Menschenrechtssystems gefährdet die Existenz der Menschenrechtsgremien.“

Seit der Pandemie arbeiten die Menschenrechtsgremien im Ausnahmezustand, doch schon vorher waren die Arbeitsbedingungen schwierig…

Windfuhr: Die erschwerten Bedingungen in Pandemie-Zeiten sind nur die Spitze des Eisbergs. Die fortdauernde Finanzmisere der Vereinten Nationen und die chronische Unterfinanzierung des Menschenrechtsschutzsystems haben die Menschenrechtsgremien im Allgemeinen und die Vertragsausschüsse im Besonderen in existenzgefährdende Schwierigkeiten gebracht. Die Ausschussmitglieder und die Mitarbeiter*innen des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte kämpfen schon seit Langem mit fehlenden Sitzungswochen und Personalressourcen. Die Anfang 2019 drohende Streichung einiger Ausschusssitzungen konnte gerade noch abgewendet werden. Dass auch 2020 Präsenzsitzungen aufgrund verspäteter und unzureichender Zahlung von Beiträgen in Frage standen, wurde nur durch die Pandemie nicht öffentlich.

Ist es angesichts leerer UN-Kassen realistisch, dass die Menschenrechtsgremien auf absehbare Zeit mehr Mittel bekommen?

Windfuhr: Das hängt vom politischen Willen der UN-Mitgliedsstaaten ab, die über das Budget entscheiden. 2014 verabschiedete die Generalversammlung angesichts der wachsenden Aufgaben der Ausschüsse und des großen Staus bei der Überprüfung von Staatenberichten und Individualbeschwerden eine Formel zur Berechnung der notwendigen Sitzungszeiten und der finanziellen und personellen Ressourcen. Doch die errechneten Mittel und Personalkapazitäten wurden bis heute nicht bereitgestellt, so dass nicht alle der geplanten Sitzungswochen durchgeführt werden konnten.

Das Menschenrechtsschutzsystem ist zum großen Teil von den freiwilligen Beiträgen der Staaten abhängig. Die signifikante Aufstockung des freiwilligen deutschen Beitrags 2021 ist ein wichtiges Signal an andere Staaten. Dennoch muss das System ausreichend aus dem regulären Haushalt finanziert werden. Staaten, die einer kritischen Prüfung ihrer Menschenrechtsperformance nur allzu gerne entkommen, haben leider wenig Interesse an einem angemessenen Budget.

„Digitale Arbeitsmethoden dürfen kein Argument für Einsparungen sein.“

Können Opfer von Menschenrechtsverletzungen weiter auf die Unterstützung durch die Vertragsausschüsse hoffen?

Windfuhr: Ziel unserer Arbeit ist es weiterhin, Menschenrechtsverletzungen durch einen besseren Schutz in den Ländern zu verhindern und Opfern bestmögliche Unterstützung zu gewähren, auch wenn ihnen dabei oft viel Geduld abverlangt wird.

Die UN-Ausschüsse haben in den letzten Jahren viele Maßnahmen zur besseren Koordinierung und Effizienzsteigerung ihrer Arbeit auf den Weg gebracht, etwa vereinfachte Staatenberichtsverfahren oder abgestimmte Berichtszyklen. Ein dringend notwendiges digitales Fallmanagement für Individualbeschwerden und Dringlichkeitsaktionen wird hoffentlich bald eingerichtet. Manche der neu erprobten Arbeitsweisen werden auch über die Pandemie hinaus Bestand haben, weil sie die Beteiligung von Menschen erleichtern. Doch die digitalen Arbeitsmethoden dürfen kein Argument für Einsparungen sein. Unter den insgesamt 172 Expert*innen der UN-Ausschüsse besteht große Einigkeit, dass die Online-Arbeit kein Ersatz für die reguläre Arbeitsweise und das persönliche Zusammentreffen der Ausschussmitglieder sein kann.

(Oktober 2021)

Zur Person

Michael Windfuhr ist seit 2011 stellvertretender Institutsdirektor und seit 2016 Mitglied im UN-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (UN-Sozialpakt). Er ist zudem Vorsitzender der AG Wirtschaft und Menschenrechte des CSR-Forum, das die Bundesregierung zum Thema Unternehmensverantwortung berät.

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