Monitoring-Stelle UN-Behindertenrechtskonvention

Die UN-Behindertenrechtskonvention in der Rechtspraxis

Rechte haben und Recht bekommen sind zwei paar Dinge – das erleben Menschen mit Behinderungen in Deutschland immer wieder. Oft müssen sie gegen Benachteiligungen und für ihre Rechte vor Gericht streiten. Auf diesem Weg stellen sich Hürden und viele Fragen aus der Sicht der UN-Behindertenrechtskonvention. Tatsächlich ist der gerichtliche Rechtsschutz, für den die deutschen Gerichte stehen, gerade für Menschen mit Behinderungen und ihre Angehörigen ein beschwerlicher Weg, der jedoch aus existentiellen Nöten oder Gründen der Gerechtigkeit oft beschritten werden muss. Für Gerichte stellt sich die Frage des richtigen Umgangs mit Rechtssuchenden, insbesondere hinsichtlich der praktischen Bedeutung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) für die deutsche Rechtsanwendung, aber auch hinsichtlich der Anforderungen an eine barrierefreie Kommunikation. Darüber hinaus läuft seit 2009 ein Nachdenken in der Justiz und ihren Zweigen, welche Bedeutung die UN-BRK für die Inhalte des Rechts und dessen Verständnis, etwa des Sozialrechts oder für das Gebiet der rechtlichen Betreuung von Erwachsenen haben.

Die Monitoring-Stelle UN-Behindertenrechtskonvention trägt durch Fachgespräche, Publikationen und  Stellungnahmen dazu bei, dass die UN-Behindertenrechtskonvention bekannter wird und mehr Berücksichtigung in der Praxis findet.

„Recht haben – Recht bekommen“

Das Kooperationsprojekt „Recht haben – Recht bekommen“ mit Aktion Mensch (2020—2022) befasst sich mit den Voraussetzungen für einen gleichberechtigten Zugang zum Recht für Menschen mit Behinderungen. Das Projekt begann mit der Erarbeitung und Prüfung von Texten für die von der Aktion Mensch betriebenen Webseiten familienratgeber.de, auf der vor allem Inhalte zu rechtlichen Themen in einfacher Sprache angeboten werden, und inklusion.de, deren Zielgruppe vor allem Rechtsanwender*innen und Beratungsstellen sind.

Darüber hinaus hat das Institut im Rahmen des Projekts zwei Publikationen veröffentlicht und gemeinsam mit Aktion Mensch eine Fachveranstaltung durchgeführt. Im November 2021 wurde die Information ‚Internationale Grundsätze und Leitlinien für den Zugang zur Justiz für Menschen mit Behinderungen‘ zu Art. 13 der UN-Behindertenrechtskonvention publiziert. Im März 2022 fand zu diesem Thema eine Fachveranstaltung statt, um das Papier mit Personen aus der Praxis zu diskutieren. Vor dem Hintergrund des Rechts zur gesellschaftlichen Teilhabe wurde zum Ende des Projekts im November 2022 eine Information ‚Das Persönliche Budget für Menschen mit Behinderungen‘ veröffentlicht.

In zwei weiteren Projekten bietet die Monitoring-Stelle in Kooperation mit der Justiz Fachveranstaltungen zur UN-BRK an.

„Die UN-Behindertenrechtskonvention in der betreuungsgerichtlichen Praxis“

Im Projekt „Die UN-Behindertenrechtskonvention in der betreuungsgerichtlichen Praxis“ (Laufzeit 2019—2021) bietet die Monitoring-Stelle bundesweit halbtägige Fachveranstaltungen für Richter*innen und Rechtspfleger*innen an, die im Betreuungsrecht tätig sind. Ziel ist es, über die wesentlichen Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention praxisnah zu informieren und über die Umsetzung unterstützter Entscheidungsfindung in der betreuungsgerichtlichen Praxis zu diskutieren.

„Menschenrechte in der sozialgerichtlichen Praxis: Die UN-Behindertenrechtskonvention“

Im Projekt „Die UN-BRK in der sozialgerichtlichen Praxis“ (2017—2018) bot die Monitoring-­Stelle Fachtage für die Richter*innen der Sozialgerichtsbarkeit an. Sie führte elf praxisorientierte und für die Richterschaft dienstortnahe Fachveranstaltungen durch, bei denen die Teilnehmenden die Bedeutung und Tragweite einzelner Bestimmungen der UN-BRK anhand von sozialrechtlichen Fallbeispielen diskutierten. Das Projekt endete im November 2018 mit dem Fachgespräch „Potenzial und Grenzen der UN-Behindertenrechtskonvention für die gerichtliche Praxis“, in dem die Anwesenden, die das Projekt begleitet, an ihm mitgewirkt oder teilgenommen hatten, eine sehr positive Bilanz zogen. Aus dem Projekt und den Erfahrungen in den Ländern wurde eine Materialsammlung für Rechtsanwender*innen entwickelt. Sie dient der praktischen Orientierung, präsentiert wichtige menschenrechtliche Dokumente, bereitet Rechtsprechung auf und enthält eine Literaturliste zu weiterführenden Quellen.

Beide Projekte sind vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales gefördert.

Artikel 12 UN-BRK - Gleiche Anerkennung vor dem Recht

Konventionstext

„(1) Die Vertragsstaaten bekräftigen, dass Menschen mit Behinderungen das Recht haben,überall als Rechtssubjekt anerkannt zu werden.

(2) Die Vertragsstaaten anerkennen, dass Menschen mit Behinderungen in allenLebensbereichen gleichberechtigt mit anderen Rechts- und Handlungsfähigkeit genießen.

(3) Die Vertragsstaaten treffen geeignete Maßnahmen, um Menschen mit Behinderungen Zugang zu der Unterstützung zu verschaffen, die sie bei der Ausübung ihrer Rechts und Handlungsfähigkeit gegebenenfalls benötigen.

(4) Die Vertragsstaaten stellen sicher, dass zu allen die Ausübung der Rechts- und Handlungsfähigkeit betreffenden Maßnahmen im Einklang mit den internationalen Menschenrechtsnormen geeignete und wirksame Sicherungen vorgesehen werden, um Missbräuche zu verhindern. Diese Sicherungen müssen gewährleisten, dass bei den Maßnahmen betreffend die Ausübung der Rechts- und Handlungsfähigkeit die Rechte, der Wille und die Präferenzen der betreffenden Person geachtet werden, es nicht zu Interessenkonflikten und missbräuchlicher Einflussnahme kommt, dass die Maßnahmen verhältnismäßig und auf die Umstände der Person zugeschnitten sind, dass sie von möglichst kurzer Dauer sind und dass sie einer regelmäßigen Überprüfung durch eine zuständige, unabhängige und unparteiische Behörde oder gerichtliche Stelle unterliegen. Die Sicherungen müssen im Hinblick auf das Ausmaß, in dem diese Maßnahmen die Rechte und Interessen der Person berühren, verhältnismäßig sein.

(5) Vorbehaltlich dieses Artikels treffen die Vertragsstaaten alle geeigneten und wirksamen Maßnahmen, um zu gewährleisten, dass Menschen mit Behinderungen das gleiche Recht wie andere haben, Eigentum zu besitzen oder zu erben, ihre finanziellen Angelegenheitenselbst zu regeln und gleichen Zugang zu Bankdarlehen, Hypotheken und anderen Finanzkrediten zu haben, und gewährleisten, dass Menschen mit Behinderungen nicht willkürlich ihr Eigentum entzogen wird.“

Allgemeine Bemerkung Nr. 1

In seiner Allgemeinen Bemerkung Nr. 1 befasst sich der UN-Fachauschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen mit einer der zentralen Bestimmungen der UN-Behindertenrechtskonvention: Dem Recht auf gleiche Anerkennung vor dem Recht gemäß Artikel 12 der UN-BRK. Der Ausschuss unterstreicht, dass allen Menschen mit Behinderungen das gleiche Recht zusteht, in ihren rechtlichen Angelegenheiten selbst zu bestimmen, zu handeln und zu entscheiden.Und zwar unabhängig von dem Umfang des Unterstützungsbedarfs und dem  Kommunikationsmodus der Person. Es sind stets die Autonomie, der Wille und die Präferenzen des Menschen mit Unterstützungsbedarf zu achten.

Artikel 13 UN-BRK - Zugang zur Justiz

Konventionstext

„(1) Die Vertragsstaaten gewährleisten Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen wirksamen Zugang zur Justiz, unter anderem durch verfahrensbezogene und altersgemäße Vorkehrungen, um ihre wirksame unmittelbare und mittelbare Teilnahme, einschließlich als Zeugen und Zeuginnen, an allen Gerichtsverfahren, auch in der Ermittlungsphase und in anderen Vorverfahrensphasen, zu erleichtern.

(2) Um zur Gewährleistung des wirksamen Zugangs von Menschen mit Behinderungen zur Justiz beizutragen, fördern die Vertragsstaaten geeignete Schulungen für die im Justizwesen tätigen Personen, einschließlich des Personals von Polizei und Strafvollzug.“

Abschließende Bemerkungen

Empfehlung des UN-Fachausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderungen zur Umsetzung von Artikel 13 UN-BRK in Deutschland

„Der Ausschuss ist besorgt über

a) das Fehlen von Strukturen und verfahrenstechnischen Vorkehrungen im Justizbereich, die spezifisch dazu vorgesehen sind, Menschen mit Behinderungen Assistenz zu gewähren, insbesondere Mädchen, die Opfer von Gewalt und Missbrauch geworden sind;

b) die mangelnde Zugänglichkeit gerichtlicher Einrichtungen und das mangelnde Verständnis bei Angehörigen von Rechtsberufen, was den Zugang zur Justiz angeht;

c) die mangelnde Um- und Durchsetzung der Normen des Übereinkommens durch die Gerichte im nationalen Rechtssystem und in Gerichtsentscheidungen.“

Internationale Grundsätze und Leitlinien für den Zugang von Menschen mit Behinderungen zur Justiz

Menschen mit Behinderungen haben gleichberechtigt mit anderen das Recht auf Gleichheit vor dem Gesetz, auf gleichen Schutz nach dem Gesetz, auf eine faire Beilegung von Streitigkeiten, auf eine sinnvolle Beteiligung und auf rechtliches Gehör. Die Staaten sind verpflichtet die erforderlichen inhaltlichen, verfahrenstechnischen sowie alters- und geschlechtergerechten Vorkehrungen und Unterstützung bereitstellen. Die im Herbst 2020 erschienenen Grundsätze und Leitlinien sollen Staaten und anderen Akteuren unterstützen, das Justizsystem so zu entwickeln, dass allen Menschen mit Behinderungen unabhängig von ihrer Rolle im Prozess ein gleichberechtigter Zugang zur Justiz gemäß der Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen ermöglicht wird.

Datenbanken

Die Datenbank „Menschenrechte & Behinderungen“ ermöglicht es, die menschenrechtlichen Dokumente der Vereinten Nationen speziell im Hinblick auf die Rechte von Menschen mit Behinderungen zu durchsuchen.

Datenbank Menschenrechte und Behinderungen

Die Datenbank „iu§ menschenrechte“ enthält wichtige menschenrechtliche Entscheidungen staatlicher und europäischer Gerichte sowie der UN-Menschenrechtsausschüsse zu ausgewählten Themenfeldern.

Rechtsprechungsdatenbank ius Menschenrechte

Zugang zum Recht

Interview mit Thomas Geißler, Humboldt Universität Berlin vom 29. September 2014

Amicus Curiae

Stellungnahmen der Monitoring-Stelle in gerichtlichen Verfahren

Eine Amicus-Curiae-Stellungnahme ist die Stellungnahme einer Organisation bei einem Gericht. Die Organisation ist selbst nicht am Verfahren beteiligt (weder als Partei noch in anderer Funktion). Die Stellungnahme verfolgt das Ziel, dem Gericht von unabhängiger Seite fallbezogene Informationen zur Verfügung stellen. Sie enthält Ausführungen, die die Grundlagen der Rechts- und Entscheidungsfindung betreffen, ohne dem Gericht eine konkrete Entscheidung anzuraten.

„Gerichten kommt bei der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention eine wichtige Rolle zu“

Interview mit Peter Masuch und Valentin Aichele vom 26. September 2013

Die Bedeutung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Sie ist eine verbindliche Richtschnur für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen. Seit dem Jahr 2009 gilt die Konvention auch in Deutschland. Wie gehen Gerichte als Schlüsselinstanzen mit den Bestimmungen aus der Konvention um? Ein Interview mit dem Präsidenten des Bundessozialgerichtes, Peter Masuch, und Valentin Aichele, dem Leiter der Monitoring-Stelle zur UN-Behindertenrechtskonvention.

Das Inkrafttreten der UN-BRK war ein großer Schritt für die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Warum?

Peter Masuch: Die Konvention ist verbindliches Recht geworden. Sie muss bei der Auslegung der Grundrechte ebenso beachtet werden wie bei konkreten Rechtsansprüchen, etwa im Sozialrecht.

Valentin Aichele: Die Konvention stellt klar, dass Behinderung ein menschenrechtliches Thema ist und der Staat besonderen Verpflichtungen unterliegt.

Die Umsetzung der UN-BRK ist mit ihrem Inkrafttreten im Jahr 2009 nicht abgeschlossen. Welche Schwierigkeiten sehen Sie?

Aichele: Es gibt immer noch große Hürden für Menschen mit Behinderungen, ihre Rechte praktisch - wie andere - in Anspruch zu nehmen. Die Bilanz der Umsetzung ist bis heute sehr gemischt. Gerade dann kommt den Gerichten für die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention eine wichtige Rolle zu. Vor Gericht allerdings stellen sich ganz eigene Schwierigkeiten.

Herr Masuch, vor welche Herausforderungen stellt die UN-BRK die Gerichte? Sehen Sie es auch so, dass es immer noch schwer ist für Menschen mit Behinderungen, ihre Rechte durchzusetzen?

Masuch: Recht haben ist das eine, Recht bekommen das andere. Die deutsche Gerichtsbarkeit muss in Bezug auf jede Lebenslage von behinderten Menschen noch klären, ob die Konvention einklagbare Rechte hergibt.

Aichele: Wir von der Monitoring-Stelle beobachten die gerichtliche Praxis regelmäßig. Erfreulich ist, dass sich die deutschen Gerichte mit der UN-BRK weitaus häufiger als mit anderen UN-Menschenrechtsverträgen befassen - wenngleich es immer noch überschaubare Fallzahlen sind. Gerade das Bundessozialgericht zeigt sich sehr aufgeschlossen und setzt positive Impulse. Im Allgemeinen jedoch ist die Tendenz erkennbar, dass Gerichte, insbesondere die Verwaltungsgerichte, immer wieder Schwierigkeiten haben, die Konvention rechtlich richtig einzuordnen.

Können Sie konkreter werden?

Aichele: Es scheint den Gerichten besonders schwer zu fallen, den Rang und den Inhalt der Rechte zu bestimmen und diese in ihre Entscheidungsfindung angemessen mit aufzunehmen. Die Verschränkung mit anderen Menschenrechtsverträgen und die wesentlichen Rechtserkenntnisquellen, also beispielsweise die Allgemeinen Bemerkungen der menschenrechtlichen UN-Fachausschüsse, sind häufig völlig unbekannt. Das gilt auch für Behörden. So kam es in der Vergangenheit zu einer Reihe von problematischen Entscheidungen, die wiederum von anderen Gerichten unreflektiert aufgegriffen werden und im Ergebnis die Konvention und die Rechte von Menschen mit Behinderungen schwächen.

Können Sie dafür ein Beispiel nennen?

Aichele: Im Bildungsbereich haben wir folgendes Beispiel: Eine Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs Hessen aus dem Jahre 2009 negiert den Rechtsanspruch von Menschen mit Behinderungen auf inklusive Bildung und den damit verbundenen Anspruch auf konkrete Anpassungen und Veränderungsleistungen bestehender Strukturen im Einzelfall. Eine solche Entscheidung ist für den Ausbau eines inklusiven Bildungssystems nicht förderlich. Nach unserer Auffassung jedenfalls ist das Recht auf inklusive Bildung in Teilen gerichtlich einklagbar.

Herr Masuch, welche Fälle erreichen die Sozialgerichte?

Masuch: Inzwischen beziehen sich die Gerichte in zahlreichen Fällen auf die UN-BRK. Ich nenne zwei aktuelle Beispiele: Artikel 16 Absatz 4 der UN-BRK verlangt geeignete Maßnahmen für Gewaltopfer. Der für das Soziale Entschädigungsrecht zuständige Senat des Bundessozialgerichts hat diese Norm als Auslegungshilfe zur Bestimmung des Einkommensbegriffs im Asylbewerberleistungsgesetz herangezogen mit der Folge, dass die Beschädigtengrundrente nach dem deutschen Opferentschädigungsgesetz nicht zum Einkommen im Sinne des Paragrafen 7 Asylbewerberleistungsgesetz gehört. Sie ist demnach nicht vor Eintritt von Leistungen nach diesem Gesetz aufzubrauchen. Ein weiteres Beispiel: Das Landessozialgericht Baden-Württemberg fordert etwa bei der Ermessensentscheidung über Anschaffung und behindertengerechten Umbau eines PKW die Beachtung des Rechts auf persönliche Mobilität nach Artikel 20 der UN-BRK.

Welche Bedeutung hat die UN-BRK in der Praxis der Sozialgerichtsbarkeit?

Masuch: Die Konvention betrifft alle Lebensbereiche von Menschen mit Behinderungen. Dies hat zur Folge, dass sich die Wirkungen der UN-BRK auch in alle Fachgebiete des Sozialrechts erstrecken. Dazu gehören Ansprüche auf Krankenbehandlung ebenso wie etwa solche auf medizinische oder berufliche Rehabilitation. Das Recht behinderter Menschen auf angemessenen Unterhalt hat in der UN-BRK große Bedeutung. Die Frage ist nun: Was folgt daraus für die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung?

Die UN-BRK verbrieft Menschenrechte, hat aber den Rang eines Bundesgesetzes. In welchen Fällen muss auf die Konvention zurückgegriffen werden?

Aichele: Ich würde sagen: „Wenn es drauf ankommt.“ Das gilt für die Fälle, in denen die menschenrechtliche Forderung ohne den Rückgriff auf die Konvention nicht hinreichend gewährleistet werden kann. Die Konvention kann, seitdem sie in Deutschland in Kraft gesetzt ist, grundsätzlich in der ganzen Breite ihrer Bestimmungen angewendet werden. Die Konvention ist höherrangiger Maßstab für die Auslegung des Rechts und einzelne Bestimmungen können überdies auch Grundlage für Entscheidungen sein. Das wird nicht immer hinreichend erkannt. Hinderlich ist insbesondere die in der Verwaltungsgerichtsbarkeit noch verbreitete Auffassung, dass es selbst nach der Ratifikation im Jahr 2009 zusätzlich noch ein sogenanntes Umsetzungs- oder Transformationsgesetz bräuchte. Das ist nicht richtig, denn es braucht keinen weiteren Schritt mehr, um die Konvention anwenden zu können.

Herr Masuch, teilen Sie diese Einschätzung und wenn ja, in welchen Fällen „kommt es darauf an“, als Gericht auf die Konvention zurückzugreifen?

Masuch: Ich teile die Auffassung von Herrn Dr. Aichele. Mit der Ratifikation ist die UN-BRK in das deutsche Recht überführt worden. Eine zwingende Folge dessen ist allerdings auch, dass die Gesetzgeber auf Bundes- und Landesebene verpflichtet wurden, alle geeigneten Gesetzgebungsmaßnahmen zur Umsetzung der in diesem Übereinkommen anerkannten Rechte zu treffen - nach Artikel 4 Absatz 1 Satz 2 Buchstabe a der UN-BRK. Rechtlich gesehen ist die UN-BRK ein erster Schritt auf einer längeren Reise. Die Gerichte, die an Recht und Gesetz gebunden sind, haben die Regelungen der UN-BRK immer dann zu beachten und mithin umzusetzen, wenn sie über Lebenslagen von Menschen mit körperlichen, seelischen, geistigen oder Sinnes-Beeinträchtigungen zu entscheiden haben.

Wie kann die UN-BRK künftig eine höhere Bedeutung in der Behörden- und Gerichtspraxis erlangen?

Masuch: Ich nenne Ihnen ein konkretes Beispiel. Das Bundessozialgericht hat sich einen eigenen Aktionsplan zur Umsetzung der UN-BRK gegeben und zielt damit darauf ab, das Bewusstsein für Menschen mit Behinderungen zu schärfen und die Achtung ihrer Rechte und ihrer Würde zu fördern. Ich sehe also in diesem Aktionsplan eine Maßnahme, um die Aufgeschlossenheit gegenüber den Rechten von Menschen mit Behinderung zu erhöhen. Dies gilt allen Menschen gegenüber, wir müssen auch die Richterinnen und Richter immer wieder sensibilisieren.

Aichele: Wichtig sind mehr regelmäßige Fortbildungsangebote für die Fachleute aus der Verwaltung und der Gerichtsbarkeit. Diese Programme können spezifisch auf die UN-Behindertenrechtskonvention zugeschnitten sein; die UN-BRK kann auch im Rahmen allgemeiner Kurse abgehandelt werden. Hilfreich sind auch Handreichungen und Auslegungshilfen. Außerdem müssen Verwaltungsvorschriften und Verfügungen Behördenmitarbeiterinnen und -mitarbeitern eine Orientierung bieten, wie sie in bestimmten Fällen entscheiden müssen, damit gewährleistet wird, dass das Recht von Menschen mit Behinderungen entsprechend Beachtung findet.

(A. Viohl)

Publikationen zu diesem Thema

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