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„Menschlichkeit sieht anders aus“

Frauke Seidensticker © F. Seidensticker/S. Pietschman

· Meldung

Am 17. August 1962 wurde der 18-jährige Peter Fechter bei seinem Fluchtversuch in der Zimmerstraße, in der Nähe des Checkpoint Charlie, von DDR-Grenzsoldaten in den Rücken geschossen. Schwer verwundet und bewegungsunfähig liegt Peter Fechter eine Stunde auf DDR-Gebiet an der Berliner Mauer, ohne dass Soldaten einschreiten. Er verblutet.

Frauke Seidensticker, Vorstandsmitglied des Deutschen Instituts für Menschenrechte (2001-2010), baute das 2001 neu gegründete Institut auf. Im Interview erklärt sie, warum das Institut heute in der Zimmerstraße seinen Sitz hat und was Menschenrechtsarbeit mit Erinnerungskultur verbindet.

2001 suchten Sie einen Standort für das neu gegründete Deutsche Institut für Menschenrechte. Was hat Sie bewogen, die Zimmerstraße in der Nähe des Checkpoint Charlie auszuwählen?

Frauke Seidensticker: Wir haben diese Option der Räumlichkeiten in der Zimmerstraße als ausgesprochenen Glücksfall empfunden. Das war nicht nur eine zentrale Lage in fußläufiger Entfernung zu den für uns wichtigen Ministerien und dem Bundestag, sondern auch ein Ort de facto „auf“ der Mauer. Auch hier gab es zwei Aspekte: Uns war es wichtig, weder als „Ost“-Institution noch als „West“ Institution gesehen zu werden – wir sind schließlich eine Anlaufstelle für alle Menschen hier im Land. Und dann lagen die Räume auch noch direkt an dem Denkmal, das an die Erschießung des 18-jährigen Maurers Peter Fechter erinnert. Er wurde beim Versuch, die Mauer zu überklettern, aufgrund des Schießbefehls von drei DDR-Grenzsoldaten angeschossen und ist noch am selben Tag verblutet. Eine Menschenrechtsinstitution bei so einem Gedenkort anzusiedeln – das passt schon.

Heißt das, dass das Institut sich auch mit NS-Unrecht und DDR-Unrecht befassen wollte?

Seidensticker: Da haben Sie einen wichtigen Punkt getroffen, den wir gerade in den Aufbaujahren immer wieder erklären mussten: Das Grundkonzept einer Nationalen Menschenrechtsinstitution ist eben gerade nicht die Aufarbeitung von Unrecht, das in früheren Jahren im Lande geschehen ist, sondern die Bearbeitung aktueller Menschenrechtsthemen in Deutschland und die Prävention von Menschenrechtsverletzungen. Mit der Aufarbeitung des NS-Unrechts und den Menschenrechtsverletzungen durch die DDR gibt es in Deutschland viel zu tun. Dafür sind aber andere Einrichtungen zuständig – das wäre auch mit den anfänglich zehn Stellen auch gar nicht zu leisten gewesen. Dennoch hat das Institut von Anfang an seine Arbeit auch im Lichte von Erinnerungskultur betrieben und aktive Verbindungen zu den entsprechenden Einrichtungen aufgebaut.

Die Mauer ist Symbol für das Trennende schlechthin. Sie steht für Grenzen, für Macht und für Herrschaft. Eine Mauer sagt deutlich: Hier geht's nicht weiter. Kann es mit Mauern in der Welt überhaupt weitergehen?

Seidensticker: Am 9. November 1989 fiel die Berliner Mauer – weil sich Menschen in der DDR mit enormer Zivilcourage und gewaltfrei für Menschenrechte eingesetzt haben. Gerade angesichts dieser glücklichen Entwicklung bei uns lese ich immer wieder fassungslos von Mauerprojekten rund um den Erdball – wir sprechen von USA/Mexiko, vom Westjordanland, lebensgefährlichen Grenzanlagen um die spanischen Exklaven im marokkanischen Norden, von langen Mauerstreifen an der indischen Grenze, um nur einige zu nennen. Menschlichkeit sieht anders aus. Wir müssen gemeinsam um menschlichere Lösungen ringen. Für mich bieten die Menschenrechte da nach wie vor einen Orientierungsrahmen, der die richtigen Werte nach vorne schiebt.                          

(B. Hildebrand)

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