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Grundrechtscheck für Sicherheitsgesetze?

Zu sehen von links nach rechts: Christa Polfers (BfDI), Eric Töpfer (DIMR), Marion Albers (Uni Hamburg), Benjamin Strasser (BMJ) © DIMR/Stelzer

· Meldung

Eine „vorausschauende, evidenzbasierte und grundrechtsorientierte Sicherheits- und Kriminalpolitik“ verspricht der Koalitionsvertrag von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP. Hierfür sollen unter anderem eine „Überwachungsgesamtrechnung“ durchgeführt, Sicherheitsgesetze bis Ende 2023 unabhängig und wissenschaftlich evaluiert und eine „Freiheitskommission“ als Expert*innengremium zur Beratung und Evaluierung künftiger Sicherheitsgesetzgebung eingerichtet werden. Angestrebt wird eine Gesamtbetrachtung der Sicherheitsarchitektur und eine umfassende Reform des Sicherheitsrechts des Bundes.

Doch wie können die ambitionierten Ziele konkret ausgestaltet werden und welche Herausforderungen stellen sich dabei? Um diese Fragen zu diskutieren, hatte das Deutsche Institut für Menschenrechte zusammen mit dem Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik der Universität Hamburg am 10. Juni 2022 zu einem Fachgespräch eingeladen. Etwa 60 Interessierte aus Politik, Verwaltung, Nichtregierungsorganisationen und Wissenschaft nahmen an dem Austausch teil.

Evaluierung von Sicherheitsgesetzen: konzeptionell und methodisch anspruchsvoll

Zum Auftakt der Veranstaltung diskutierten die Bundestagsabgeordneten Philipp Amthor (CDU), Sebastian Fiedler (SPD) und Misbah Khan (Bündnis 90/Die Grünen) sowie die ehemalige Bundesjustizministerin und stellvertretende Vorsitzende der Friedrich-Naumann-Stiftung, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger die Vorhaben der Ampel-Koalition. Während sich das Podium einig war, dass eine grundrechtsorientierte und evidenzbasierte Politik der inneren Sicherheit zu begrüßen sei, gab es erhebliche Differenzen bei der Frage, was eine Überwachungsgesamtrechnung und die Evaluierung von Sicherheitsgesetzen leisten können. Deutlich wurde, dass die Umsetzung konzeptionell und methodisch anspruchsvoll wird. Leutheusser-Schnarrenberger appellierte deshalb dafür, möglichst schnell mit der Umsetzung der Vorhaben zu beginnen.

Den Sorgen von Amthor, dass die Vorhaben angemessene Befugnisse der Sicherheitsbehörden beschränken könnten, entgegneten Khan und Leutheusser-Schnarrenberger, dass es darum gehe, einen Orientierungsrahmen für Diskussionen über neue Befugnisse zu schaffen. Denn Grundrechtseingriffe müssten immer gut begründet werdenn sein. Betont wurde auch, dass die Freiheitskommission analog zu den Wirtschaftsweisen oder dem Normenkontrollrat lediglich eine beratende Funktion haben solle und somit keine Entparlamentarisierung oder Expertokratie drohe. Fiedler warb mit Blick auf das gesamte Kapitel des Koalitionsvertrags zur inneren Sicherheit auch für die Neuauflage des Periodischen Sicherheitsberichts als Bestandsaufnahme zum Thema Sicherheit und warnte davor, die Diskussion auf die Befugnisse der Sicherheitsbehörden zu verengen und dabei deren Ausstattung aus dem Auge zu verlieren.

Herausforderungen der rechtsstaatlichen Kontrolle vernetzter Sicherheitsbehörden

Im Anschluss an die Diskussion wurden in einem ersten Panel die Herausforderungen erörtert, die sich für die rechtsstaatliche Kontrolle zunehmend vernetzter Sicherheitsbehörden stellen. Anna Daun, Professorin für Politikwissenschaft an der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin, betonte die Dilemmata der formellen Geheimdienstkontrolle durch Aufsichtsorgane wie das Parlamentarische Kontrollgremium oder die G 10-Kommission, da das Wissen der Kontrolleur*innen nur in seltenen Ausnahmefällen öffentlich kommuniziert werden dürfe. Gleichwohl seien insbesondere die gerichtsähnlichen Kontrollinstanzen zu stärken, um eine wirksame Aufsicht zu gewährleisten.

Raphael Bossong von der Stiftung Wissenschaft und Politik lenkte den Blick auf die europäische Ebene und beklagte die verbreitete Blindheit für die wachsende Relevanz der Sicherheitskooperation im Rahmen der EU, die sich vor allem durch technische Infrastrukturen immer tiefer auch in die alltägliche Arbeit der nationalen Polizeien einschreibe. Zentrale Probleme der Kontrolle stellten sich durch die Exekutivlastigkeit der EU-Innenpolitik, das „Problem der vielen Hände“ und der entsprechenden Diffusion von Verantwortlichkeiten. Ein weiteres Problem liege im emergenten Charakter der Zusammenarbeit, wodurch deren zukünftige Gestalt nicht absehbar sei. Unklar sei auch, welche Rolle die existierenden Kontrollgremien etwa für Frontex oder Europol spielten. Ebenso zeichne sich die Bedeutung der erst seit zehn Jahren bindenden EU-Grundrechtecharta mit ersten Leitentscheidungen des Europäischen Gerichtshofes nur langsam ab. Beide Referent*innen waren sich darin einig, dass es öffentliche Aufmerksamkeit und die „unkontrollierte Kontrolle“ durch Medien und Zivilgesellschaft zur Ergänzung und Flankierung der institutionalisierten Aufsicht brauche.

Interdisziplinäre Forschung und multidisziplinäre Freiheitskommission

Das zweite Panel beschäftigte sich mit den konkreten Möglichkeiten und Herausforderungen der geplanten Überwachungsgesamtrechnung und einer Evaluierung von Sicherheitsgesetzen. Christa Polfers, Leiterin der Abteilung Polizei und Nachrichtendienste beim Bundesbeauftragten für den Datenschutz und die Informationsfreiheit (BfDI), erinnerte daran, dass in den vergangenen 20 Jahren mehr als 85 neue Sicherheitsgesetz erlassen wurden. Aus Sicht des BfDI sollte die Überwachungsgesamtrechnung daher auf Grundlage einer unabhängigen und wissenschaftlichen Analyse ein umfassendes Lagebild der Sicherheits- und Kriminalpolitik bieten, die Grundrechtskonformität von Gesetzen und Praxis prüfen und eine politische Atempause im Feld der Sicherheitsgesetzgebung erzwingen. Methodisch sollten die Perspektive Betroffener einbezogen, das Zusammenspiel von Befugnissen in den Blick genommen und die Rolle und Befugnisse von Aufsichtsbehörden beachtet werden. Wichtig sei es zudem, Vollzugsdefizite zu erkennen und die Verwaltungspraxis zu evaluieren.

Marion Albers, Professorin für Öffentliches Recht, Informations- und Kommunikationsrecht, Gesundheitsrecht und Rechtstheorie an der Universität Hamburg, betonte, dass mit der wachsenden Bedeutung von Strukturermittlungen sowie dem Einsatz automatisierter Verfahren und Künstlicher Intelligenz eine Evaluierung von Sicherheitsgesetzen umso notwendiger werde. Sie warnte allerdings vor überhöhten Erwartungen und erklärte, dass die Evaluierung von Sicherheitsgesetzen nie deren Realität umfassend abbilden könne. Notwendig sei vielmehr, die Ziele des Koalitionsvertrages zu präzisieren und Kriterien für die Evaluierung zu benennen. Albers empfahl, sich dabei weniger auf Einzelbefugnisse zu fokussieren, sondern die Datenverarbeitungsprozesse in den Blick zu nehmen und nicht nur den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, sondern auch Zweckbindung, Verwertungsverbote und Rechtsschutz als Prüfmaßstab anzulegen. Methodisch sei eine interdisziplinäre Zusammenarbeit von Rechtswissenschaft und empirischer Sozialforschung ebenso wünschenswert wie eine zivilgesellschaftliche Beteiligung.

Zum Abschluss stellte Benjamin Strasser, Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesministerium der Justiz, erste Überlegungen zur Umsetzung der Pläne des Koalitionsvertrags vor. Er machte aber deutlich, dass die Abstimmung innerhalb der Bundesregierung noch laufe. Der enge Zeitrahmen erzwinge jedoch eine Beschränkung der Untersuchung auf „klassische Sicherheitsgesetze“, wobei die Überwachungsgesamtrechnung integriert sein sollte in eine unabhängige wissenschaftliche Evaluation. Wünschenswert wäre es, dabei auch die europäische Ebene und die Bundesländer mit in den Blick zu nehmen. Auf Grundlage der Ergebnisse solle dann die Freiheitskommission als multidisziplinäres Gremium unter Beteiligung von Wissenschaft, Zivilgesellschaft und Behörden ihre Arbeit aufnehmen. Die Kommission sollte verstetigt und zwingend an der Sicherheitsgesetzgebung beteiligt werden.

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