Aktuelles

Gewaltschutz in Einrichtungen der Behindertenhilfe ausbauen

© iStock/Serghei Turcanu

· Meldung

Menschen mit Behinderungen, die in Einrichtungen leben, sind noch immer nicht ausreichend vor Gewalt geschützt. Das zeigt der dramatische Vorfall im Potsdamer Oberlinhaus, in dem eine Pflegerin vier Menschen tötete und eine Bewohnerin schwer verletzte. Auch die Geschehnisse im Wittekindshof in Bad Oeynhausen sind noch lange nicht aufgearbeitet. Es laufen Ermittlungen von Polizei und Staatsanwaltschaft wegen Freiheitsentzug und Körperverletzungen gegen 145 Ärzt_innen, Betreuer_innen und Pflegekräfte. Viel zu oft sind Einrichtungen geschlossene Systeme, in denen Menschen versorgt und betreut werden, ohne am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. Diese Menschen haben jedoch das Recht, selbstbestimmt leben zu können und sicher vor ungleichen Machtverhältnissen zu sein.

Die Monitoring-Stelle UN-Behindertenrechtskonvention des Deutschen Instituts für Menschenrechte weist seit Jahren auf die Notwendigkeit eines besseren Gewaltschutzes für Menschen mit Behinderungen hin. „Der Staat ist verpflichtet, Menschen mit Behinderungen vor Gewalt zu schützen. Das besagt nicht nur das Grundgesetz, sondern auch Artikel 16 der UN-Behindertenrechtskonvention und Artikel 4 der Istanbul-Konvention zur Bekämpfung geschlechtsspezifischer Gewalt,“ so Britta Schlegel, Leiterin der Monitoring-Stelle UN-Behindertenrechtskonvention. Der UN-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen habe bei der letzten Staatenprüfung im Jahr 2015 angemahnt, Deutschland solle eine wirksame Gesamtstrategie zum Schutz vor Gewalt entwickeln, einschließlich einer menschenrechtsbasierten unabhängigen Überwachung und niedrigschwelligen Beschwerdeverfahren in Einrichtungen, so Schlegel weiter. Bislang ist in dieser Hinsicht  nicht genug passiert.

Monitoring-Stelle begrüßt Stärkung des Gewaltschutzes im Wohnteilhabegesetz Berlin – auch andere Bundesländer sollten dem Vorbild folgen

Ein Vorbild für andere Bundesländer bildet dieser Tage das Land Berlin. Nicht der einzige, doch ein wichtiger Baustein einer Gesamtstrategie zum Gewaltschutz von Menschen mit Behinderungen ist der Ausbau gesetzlicher Schutzvorschriften. Die Monitoring-Stelle begrüßt deshalb die Reform des Wohnteilhabegesetzes Berlin („Gesetz über Selbstbestimmung und Teilhabe in betreuten gemeinschaftlichen Wohnformen“).

In der neuen Fassung beinhaltet das Berliner Wohnteilhabegesetz maßgebliche Verbesserungen im Bereich des Schutzes vor Gewalt und Diskriminierung: Der Schutz vor Gewalt wird als Gesetzesziel aufgenommen und Bewohner_innen haben ein Recht auf barrierefreie Information und Kommunikation. Sie werden zukünftig auf unabhängige externe Beratungsstellen und Beschwerdemöglichkeiten hingewiesen und ihre Beteiligungsrechte werden gestärkt. Die Träger von Einrichtungen der Behindertenhilfe müssen in der Konzeption der Leistungserbringung in Zukunft Aussagen zum Schutz vor Missbrauch und Gewalt, zur Vermeidung freiheitsentziehender Maßnahmen und zur Förderung der Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft vorlegen sowie die Umsetzung der dazu getroffenen Maßnahmen dokumentieren. Jeder strafrechtlich relevante Missbrauchsvorfall, jedes Gewaltvorkommnis und Fälle von Diskriminierung gegenüber Bewohner_innen sind der Heimaufsichtsbehörde anzuzeigen. Die Aufsichtsbehörde muss künftig bei jeder Regelprüfung in Wohneinrichtungen untersuchen, ob die Anforderungen zum Gewaltschutz, zur Vermeidung freiheitsentziehender Maßnahmen und zum Diskriminierungsschutz auch tatsächlich erfüllt werden.

Das am 12. Mai 2021 verkündete Gesetz tritt in sechs Monaten in den Wohneinrichtungen in Berlin in Kraft. „Es wird darauf ankommen, diese Regelungen in der Praxis auch konsequent umzusetzen. Hier sind die Träger von Einrichtungen und deren Leitungspersonal am Zuge,“ so Catharina Hübner, Leiterin des Projekts Monitoring-Stelle Berlin. „Aber auch die behördliche Heimaufsicht beim Landesamt für Gesundheit und Soziales steht in der Pflicht. Sie muss ihre Prüftätigkeit zukünftig am Gewaltschutz ausrichten und dafür sorgen, dass die Regelungen in der Praxis umgesetzt werden. Für diese Aufgabe sollte die Behörde fortgebildet und mit ausreichend Personal ausgestattet werden.“

Ziel muss die Deinstitutionalisierung sein

Menschen mit Behinderungen haben Rechte. Im Zentrum jedes pflegerischen oder betreuenden Handelns muss es um die Wahrung ihrer Selbstbestimmung und Würde, die Inklusion in die Gemeinschaft und die Wahlfreiheit, was das eigene Leben betrifft, gehen. Die UN-Behindertenrechtskonvention verpflichtet Deutschland in Artikel 19 zur Deinstitutionalisierung: Ambulante Unterstützungsdienste für alle Menschen mit Behinderungen, jenseits von Art und Schwere der Beeinträchtigung, müssen ausgebaut und große stationäre Wohneinrichtungen schrittweisen aufgelöst werden. Das Empowerment behinderter Menschen, ihre gleichberechtigte Inklusion und die Auflösung stationärer Wohnformen sind der beste Schutz vor Gewalt.

Die Monitoring-Stelle UN-Behindertenrechtskonvention kritisiert die Darstellung von Menschen mit Behinderungen als Fürsorgeobjekte, wie sie teilweise noch immer zu erkennen ist. So spekulierte ein im Fall des Oberlinhauses ermittelnder Polizist, die Pflegerin habe die Tat vielleicht begangen, um „die Leute zu erlösen, von Leiden, die vielleicht sogar unheilbar sind“. Diese Aussage ist untragbar, weil sie nahelegt, das Leben behinderter Menschen sei weniger Wert, als das anderer Menschen. Sie zeugt davon, dass auch zwölf Jahre nach Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland an vielen Stellen noch immer ein Bewusstsein für die Lebenslagen und die Rechte von Menschen mit Behinderungen fehlt.

Ansprechpartner*in

Mehr zu diesem Thema

Zum Seitenanfang springen